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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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entschlossen wie der Totenkopf über der Stirn, in einem Militärlastwagen über die Straße von Warschau nach Krakau rasen, unter einer Plane auf der Ladefläche einen Spaten und sechs 50-Kilogramm-Kanister mit himmelblauen Zyklon-B-Kristallen, rundherum die nassen und sanft gewellten polnischen Felder im Sommerregen, hohe Blumen hinter den Zäunen um die Häuser, nasse Wege, sattgrüne Bäume mit weißen Sternen als Blüten, und vor ihm am fernen Horizont standen andere Bäume, grau wie die Nordsee. An jedem Kontrollpunkt schlugen sie die Hacken zusammen, salutierten und winkten ihn durch. Hätten sie in seine Seele blicken können, sie hätten ihn erschossen, erschossen, erschossen !
    Der große, blonde-Obersturmführer Kurt Gerstein raste weiter, Richtung Auschwitz. Bald schon würde er vor der schwarz-weißen Schranke stehen, dem Schriftzugund es würde zu spät sein. (Er hatte Helmut Franz gerade von den weiblichen Opfern der medizinischen Experimente in Block 1 berichtet.) Der Inhalt wie vieler Kanister konnte sich beim Transport zersetzen? Rasch in den grünen grünen Wald aus jungen Bäumen, die vom frischen Regen glitzern! Gab es hier Partisanen? Sollten sie ihn doch umbringen. Von Bäumen abgeschirmt, schwitzend und zitternd, grub er der Blausäure ein Grab: groß genug für zwei Kanister heute. Theoretisch rettete er so einhunderttausend Leben.
38 Hinunter in die Grube damit, glitzernd, himmlisch schön; die Dämpfe ließen ihn würgen. Sie würden ihn erschießen, erschießen, erschießen! Warum stopfte er sich nicht einfach ein paar Kristalle in den Mund und machte ein Ende? Da werden sie was zu kauen haben! Das waren immer die Worte von Oberscharführer Moll, wenn sie die Verteilerbüchsen in die Gaskammern von Auschwitz warfen. Und Gerstein lachte ; wirklich, er lachte, damit sie ihn weiter ungehindert sein Gelübde erfüllen ließen … Nachher verbrachte er die Nacht in Krakau. Meist schaffte er es in die Marienbasilika, die schreckensstarren Massen sprangen zur Seite, um ihn durchzulassen, damit er sich in dem dunklen, von vielen Händen abgegriffenen Holzlabyrinth verbergen konnte, mit leerem Blick auf dunkle Kandelaber, noch dunklere Porträts, Fenster so tief wie die Augenhöhlen eines Totenkopfes. Ihr bleicher Christus war auferstanden, aber ach, ans Kreuz genagelt war er auferstanden. Da war Er und hing hilflos am
hohen blauen Firnament des Kreuzgratgewölbes mit seinen goldenen Sternen.
    27
    Am 31.1.44 hatte die Front sich aufgelöst wie Treibgut auf einer ablaufenden Welle. – Unseren Atlantikwall werden sie nie durchbrechen!, rief sein Vater treu ergeben.
    Wie könnten sie auch?, stimmte-Obersturmführer Kurt Gerstein zu. Er gab ein perfektes Bild unserer arischen Rasse ab; ganz offensichtlich verfügte er über die feste Entschlossenheit, deutsche Befehlsgewalt hart, aber gerecht durchzusetzen.
    Kurt, so alt ich auch bin, ich finde, ich sollte etwas tun.
    Sieh dich doch an, Vater! Du kannst kaum laufen!
    Das macht nichts. Gib mir eine Schaufel, ich kann noch immer einen Meter Panzerabwehrgraben ausheben, und wenn es mich einen ganzen Tag kostet!
    Das ist sehr lobenswert, Vater.
    Vor Kurzem hatte ich einen Alptraum. Ich habe geträumt, die Slawen seien in Berlin! Du glaubst doch nicht, dass sie bis hierher kommen?
    Das liegt in Gottes Hand.
    Was soll das nun wieder heißen? Im Namen des Allmächtigen, stehst du hinter unserem Führer oder nicht?
    Du siehst doch, wessen Uniform ich trage, sagte Kurt Gerstein mit zusammengebissenen Zähnen.
    Ich sehe, was du von dieser Uniform hältst. Selbst deine Kinder können es sehen. Und Elfriede! Du wirst nie begreifen, was das arme Mädchen dir zuliebe leidet. Wenn du ein männliches Leben führen willst, Kurt, halte die Frauen lieb und wert. Eine Frau trägt keinen Harnisch, verstehst du?
39 Es ist deine Pflicht …
    Entschuldige, Vater, aber wie würdest du deine Pflicht als Christ beschreiben?
    Willst du mich gerade kritisieren, Kurt? War das deine Absicht?
    Nein.
    Na, was wolltest du dann sagen?
    Vater, ich … Für mich bedeuten die Gebete zu Unserem Herrn über
haupt nichts, wenn sie nicht ihren praktischen Ausdruck in Taten der Nächstenliebe finden.
    Aber das ist an sich nicht praktikabel, denn wenn wir alle beschließen würden, unsere christliche Nächstenliebe so auszudrücken, wie es uns gerade passt, würde niemand mehr seine Pflicht erfüllen. In Wahrheit sind wir doch alle Egoisten und suchen nach Ausreden! Weißt du, Kurt, in

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