Europe Central
der Welt.
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Die Rote Guillotine
Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen.
– Walter Benjamin (1927)
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Es war einmal, auch wenn es vielleicht schon früher vorgekommen war, da leuchtete der erste Knopf auf; dann begann das Telefon zu läuten, der Anruf kam direkt aus der Schaltstelle Europa. Für die Rote Guillotine, die ein Mitglied des Zentralkomitees war und daher von allen Entwicklungen wusste, bevor sie per Telefon davon erfuhr, bedeutete dies eine weitere Gelegenheit, sich ihre Triumphe zusammenzurechnen und sich daran zu freuen, dass ihre Ideale mit den Jahren an Wucht gewonnen hatten. Draußen, fast in Sichtweite von Westberlin, standen unsere Thälmann-Pioniere im Kreis, hielten einander an den Händen und sangen auf einem kopfsteingepflasterten Platz, den die Trümmerfrauen freigeräumt hatten. Fast hätte die Rote Guillotine mitgesungen. Mit vierzehn war sie in der Wandervogelbewegung so glücklich gewesen! Der Text war ein anderer, aber viele der Melodien waren noch die gleichen.
Das Telefon sagte: Urteil für Nellis bestätigt.
Gut, sagte die Rote Guillotine, die der Genosse Sorgenicht ganz richtig als Hilde Benjamin, eine kommunistische Persönlichkeit, die die Einheit von Theorie und Praxis verkörpert, gepriesen hat.
2 Die sogenannte Westpresse beschreibt sie als negroide Frau mit dunklen, bösen Augen, eine weibliche Ausgabe von Roland Freisler. Angeklagte wissen, dass sie von dieser charmanten Person keine Gnade zu erwarten haben.
3 Aus so einer Quelle darf man das gewiss für ein Kompliment halten.
Die Große Sowjetische Enzyklopädie ignoriert sie zugunsten jenes berühmten Selbstmörders und Ästhetikers, den ihr ein seltsamer Zufall zum Schwager machte. Auch in Aus meinem Leben des Genossen Honecker wird ihr kein Denkmal gesetzt. Man darf dieses Schweigen nicht missverstehen. Stellt etwa der US -amerikanische Geheimdienst seine fähigsten Agenten in Geschichtsbüchern bloß? Die Rote Guillotine bleibt eine unserer wichtigsten Aktivistinnen der ersten Stunde, und in
der Ära dieser Legende, also vor allem in der Zeit zwischen den Verfassungen von 1949 und 1968, haben wir alle ihren Namen gesehen, wenn auch nicht immer ihr Gesicht. (Warum nicht immer auch ihr Gesicht? Wir konnten uns nie sicher sein, dass sie nicht durch einen Spalt in den Samtvorhängen hinter den winzigen Fenstern einer russischen Limousine zu uns herüberspähte.) Ich höre, sie habe sowohl der Genossin N. K. Krupskaja ähnlich gesehen als auch, wie gesagt, unserer Trittbrettfahrerin K. Kollwitz, deren kummervolle Holzschnitte wir gern unseren Pionieren zeigen, um ihnen den nötigen Klassenhass einzuimpfen. Die Kollwitz stand für sich selbst. Die Rote Guillotine stand für uns alle. Es wäre ein verzeihlicher Irrtum, ihr Bild in dem rodtschenkoesken Profil einer aus Draht gefertigten Frau aufgehen zu lassen.
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Es wird erzählt, dass die Rote Guillotine am Tage unserer ersten Stunde , als die Sieger unsere Kinder mobilmachten, um Spiegel, Schreibmaschinen und andere Beute aus unseren Wohnungen zum Güterbahnhof zu schleppen, wo alles im Regen auf den Abtransport nach Russland wartete, ins Büro des sowjetischen Militärkommandanten gestiefelt sei – kein Ort, den man als Deutsche leichtfertig betrat – und er sie empfangen habe, betrunken, mit vier Uhren am Arm.
Was willst du, Frau? Frau nicht hübsch; raus mit Frau!
Ich spreche Russisch, sagte sie in seiner Sprache.
Er war verdutzt. Sie stand vor ihm und wartete. Plötzlich nahm er eine Armbanduhr ab, warf sie ihr zu und sagte: Nimm.
Danke, Herr Kommandant.
Alle Deutschen hassen die Russen. Hasst du die Russen?
Nein.
Ich hasse die Deutschen.
So ist das eben.
Gut. Trink mit mir.
Und das tat sie.
Also gut. Was willst du?
Da vertraute sie ihm ihren Traum an. Es drängte sie, die fortschrittlichen juristischen Prinzipien unseres östlichen Mutterlandes, der Sowjetunion, auf Deutschland anzuwenden.
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Gehen wir zurück ins Jahr 1919, als rechte Elemente K. Liebknecht und R. Luxemburg ermordeten. Helene Marie Hildegard Lange, siebzehn Jahre alt, brach in Tränen aus, verlor den Appetit und sprach praktisch mit niemandem mehr. – Aber Hilde, was kann man gegen solche Leute schon ausrichten?, sagte ihre Mutter. Den Kampf mit ihnen aufzunehmen ist nicht nur gefährlich; es nützt auch nichts.
Viel sprach für Frau Langes Worte: Logik, Erfahrung und vor allem Liebe. Aber gerade als das Mädchen fast schon so weit war, ihr
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