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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Ich hatte mich gefunden; auf dem Amt liebten sie mich; ich stand für das Übermenschliche. Ich wachte nicht mehr auf; ich schlief nie, wollte ich sagen; und einmal erfreute ich mich eines Wachtraums von einer dunkelhaarigen Frau, splitternackt, die mich aus großen dunklen Augen anblickte, ernst und stolz; ihr Blick erinnerte mich an den eines Zollbeamten; es könnte Elena Konstantinowskaja gewesen sein, aber wenn nicht, war es vermutlich Elena Kruglikowa. Als ich die schmerzenden Augen schloss, hörte ich rundherum ein Atmen; heute glaube ich, dass ich im Kino war, wo eine alte Kopie von »Das Luftbrückenidyll« gezeigt wurde, mit Lisca Malbran in der Haupt
rolle. Sie trug einen schneeweißen Matrosenanzug, dabei war sie Fallschirmjägerin; sie flogen sie hinter die feindlichen Linien, damit sie im Alleingang Stalingrad retten konnte. Sie war eine Heldin, und ich war ein Held – ein Nationalheld. Immer, wenn sie mir eine Kugel ins Genick schossen, bekam ich wieder einen Orden, posthum natürlich. Oh, jetzt stand ich auf der guten Liste. Meine Vernunft sagte mir, dass alle Eisenbahngleise der Welt parallel verliefen und hier in Berlin ihren Anfang und ihr Ende hatten, also wusste ich, dass ich immer irgendwie zu ihm oder ihr kommen konnte oder sie zu mir. Der Eiserne Vorhang hatte mich noch nie aufhalten können. Außerdem erklärte der Genosse Ulbricht im Juli 1961 auf einer Pressekonferenz: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
    Und so berichtete der Genosse Honecker am 13. 8. 1961 stolz: Um 0:00 Uhr wurde Alarm gegeben und die Aktion ausgelöst.
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    Aus der Stalinallee, achtzig Meter breit, war inzwischen die Karl-Marx-Allee geworden. Jede Woche schlang sich die Mauer fester um den Vorhang, bis sie gewaltiger war als die Statue des Rotarmisten im Treptower Park. Bevor die Wohnungen an der Bernauer Straße zugemauert wurden, konnte ich dort noch immer Menschen springen sehen, erst aus den Fenstern im Erdgeschoss, dann aus dem ersten Stock. Nun, das haben sie unterbunden. Es kam kaum noch jemand durch. Ich weiß noch, wie die beiden steinernen Löwen sich auf ihrer zerstörten Löwenbrücke duckten, als wollten sie die beiden steinernen Löwen auf der anderen Seite anheulen; ich weiß noch, wie die Mauer in Sichtweite des zerstörten Bahnhofs von Potsdam vorbeizog; nichts kann ich vergessen; mein Kopf ist mit Rüstungen vollgestopft wie der alte Ordenspalast. Nun ist es mit alldem vorbei, genau wie mit dem Eisernen Vorhang. Aber damals, na ja, Sie wissen schon!
    Die Rote Guillotine sprach eifrig Todesurteile aus. Manchmal, wenn ich gerade nicht selbst hingerichtet wurde, sah ich von einer der beiden Steinsäulen aus, die das kreisrunde Rollfeld des Flughafens Tempelhof überragen, den Hinrichtungen zu. (Inzwischen stand mir in Berlin so ziemlich alles offen.) In Warschau lagen jahrelang ein steinerner Kopf und eine steinerne Hand getrennt voneinander im Schmutz. Weiter
nach Osten hin hatten sie noch alles: die Strohsäcke in den sowjetischen Gefängnissen, die vielen goldgerahmten Ikonen an den blauen Wänden der Kaiserin. Aber der Eiserne Vorhang war dicht; und die Mauer, bewacht von langen Kolonnen von Ami-Jeeps mit weißen Sternen und grell leuchtenden Scheinwerfern, forderte immer mehr Opfer; im Todesstreifen knurrten die Wachhunde, um die unausweichliche Aufwärtsentwicklung gegen die Operation Grey der Deutschordensbrüder von der NATO abzusichern; Präsident Kennedy rief die freie Welt zur Entschlossenheit auf; Adenauer schwor den Ostdeutschen, die gezwungen sind, getrennt von uns in Unfreiheit und Rechtlosigkeit zu leben, »brüderliche Verbundenheit«: Wir rufen ihnen zu: Ihr gehört zu uns, wir gehören zu euch!
22 Als sie dies hörten, überreichten unsere getreuen westdeutschen Frauen ihm spontan ein Blumenbukett!
    Ich möchte auf jeden Fall, dass Sie nicht den Glauben aufgeben, dass die Geschichte gut ausgeht, zumindest für unsere Seite. Der unfassbar wertvolle Schatz der Demokratie war unser: Westberliner in Lumpen standen an den Wahllokalen Schlange, und über allem hingen silberweiße Sommerwolken. Die frisch gepflanzten Baumschösslinge Unter den Linden wurden stündlich größer. Ein Mädchen stand auf einem Bein, blies mir aus angemalten Lippen Zigarettenrauch zu, legte den Kopf schief und zwinkerte mir zu.
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    [ 38 ]  Hier wollen wir noch einmal Hermann Graf Keyserlings Spektrum Europas zitieren, das nie veraltet: Deutschland ist das Gewissen der Welt … der Spiegel

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