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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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normales Leben wieder aufzunehmen, sah sie den Gedenkholzschnitt für Liebknecht nach den Zeichnungen, die K. Kollwitz auf Einladung der Familie in der Leichenhalle angefertigt hatte. Der Kopf des Märtyrers, zurückgeworfen auf die weiße Leere des Papiers, ist von den Schatten seines Todeskampfes zerfurcht. Licht scheint auf sein Kinn und seine Wangen. Die Einschusslöcher in seiner Stirn sind mit roten Blumen mildtätig verdeckt (oder gewürdigt) worden. Der Mund verzieht sich zu einer halbrunden, abwärts gebogenen Kerbe. In dem halben Dutzend Skizzen der Kollwitz ist das Gesicht nicht mehr als das, was es objektiv war: stumpf, blass, leblos. Es mag sehr wohl noch weniger gewesen sein. In der allerersten Zeichnung sind die Blumen ausgelassen worden. Danach kommt die Kohle-Studie, ebenso detailliert, aber nun legt sich, mit derselben Absicht und dem demselben Effekt wie bei einer Frau, die sich schminkt, das traurig Verschmierte des Mediums auf die Leiche. Hier führt die Künstlerin außerdem eine Reihe trauernder Arbeiter ein. Alte Frauen brauchen mehr Schminke als junge; die Toten brauchen wieder mehr; also fuhr die beflissene K. Kollwitz mit einer Radierung fort und dunkelte Liebknechts Gesicht so stark ein, dass Ohr, Augenhöhlen, Wangen, Haar und Stirn ganz verdüstert sind. Die folgende Lithografie löst die Szene in Striche auf; die Tuschezeichnung in Pinselstriche; schließlich entscheidet sie sich für den Holzschnitt, und der Stichel legt alle Muskeln und Sehnen unter der Gesichtshaut der Trauernden frei; alle sind sie blasse, bekümmerte Leichen in dem Dunkel, das des Mannes Gesicht umgibt, aus dem ein paar Ebenen, Halbkreise und Winkel wieder ans Licht gebracht worden sind, die aber wie in den ersten Skizzen ein Abbild des Nichts bleiben, das sich nun zu so etwas wie einem Götzenbild aus Ebenholz verdichtet hat. Was ist mit dem hervorstechendsten Teil des Bildes, der Bahre selbst? Sie ist ein weißes Nichts – genauer gesagt, ein langes weißes Mumientuch
mit ein paar schwarzen Kräuseln an den Kanten.
7 Im Jahr 1960 wurde unmittelbar nach der Uraufführung von »Genosse Berlin« ein Festessen abgehalten, zu Ehren des Filmemachers, eines gewissen R. L. Karmen, der die Rote Guillotine bei ein paar Häppchen unseres hervorragenden deutschen Käses wissen ließ, dass dieses gewagte Mittel der Leere auf dem Liebknecht-Gedenkblatt ihn dazu inspiriert habe, bei seinem Dokumentarfilm über die Eröffnung unseres ersten Hochofens in Krasnogorsk etwas Ähnliches zu versuchen: Den Festakt selbst habe er ausgelassen!
8  – Was die Rote Guillotine anging, welchen Effekt mochte die Radikalität der Kollwitz als Grafikerin auf sie gehabt haben? (Für uns Kommunisten gilt: Ohne messbare Wirkung ist es keine Kunst des Volkes!) Rein nach ästhetischen Kriterien urteilend, nicht als Genosse Alexandrow, würde meine Antwort lauten: Dieser Holzschnitt lehrt uns Vereinfachung und Abstraktion.
    Und so beschloss das Fräulein Lange, in Heidelberg Jura zu studieren. Ihre Mutter fragte sie nach dem Grund. Sie erwiderte: Ich glaube, ich werde allen helfen können, denen Unrecht geschah.
9
    Bitte denk noch einmal darüber nach, mein Liebes. Die Juristerei ist eine Sache, aber es ist etwas ganz anderes, sich …
    Mit harter Stimme sagte sie: Sie haben Liebknecht ermordet, und seine Tochter studiert Jura! Deshalb werde auch ich Jura studieren.
    Ihre Mutter konnte nichts ausrichten.
    Der Legende zufolge gehörte sie zu den besten Studentinnen, vielleicht war sie die allerbeste. Manchmal träumte sie von einer silbernen Schatulle, die sich nicht öffnen ließ. Sie suchte nach dem Schlüssel. Eines Tages würde sie ihn finden, und dann …
    Um die Studiengebühren bezahlen zu können, arbeitete sie im Akkord in der Metallverarbeitung. Die Legende stilisiert sie zur Angehörigen der Arbeiterklasse. Spät eines Abends, als sie an der Drehbank fertig war, machte sie Schluss und ging zur Straßenbahnhaltestelle, wo sie gerade ankam, als ein Bettler, dem die letzten paar klatschnassen Haare am faltigen Schädel klebten, einer alten Frau wie ein Troll oder Kobold die Handtasche entriss. Schweigend sah Fräulein Lange zu. Schon da hatte sie den Ruf der Unparteiischen.
10
    Am 27.2.26 heiratete sie den Genossen Georg Benjamin, einen Arzt, der, wie die Legende uns eifrig erinnert, außerdem Stadtschulrat in Berlin-Wedding war, einem Arbeiterviertel.
11 Im November 27 verstand sie
endlich die Maxime des Genossen Ulbricht, nach der

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