Racheengel
1
Heißes Blut auf ihren Händen. Rot. Das leuchtendste Rot, das Galya je gesehen hatte. Ihr Kopf kippte zur Seite, und plötzlich sah sie nur noch in einen schwarzen Tunnel.
Nein, jetzt nur nicht ohnmächtig werden.
Sie keuchte, holte gierig Luft und nahm den kupfernen Geruch wahr, der ihr sofort wie eine Faust auf den Magen schlug. Sie schmeckte Galle im Mund und schluckte.
Als sie versuchte, die Glasscherbe herauszuziehen, um deren eines Ende sie als improvisiertes Messer einen Fetzen vom Bettlaken gewickelt hatte, zitterten die Beine des Mannes. Galya schrak zurück. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sie drehte die Scherbe hin und her und spürte, wie sie tief in seinem Hals an etwas Hartem schabte, dann knackte es. Die Klinge glitt aus dem zweiten Mund, den sie dem Mann unterm Kinn eingeschnitten hatte. Hellrotes Blut blubberte heraus, verteilte sich auf seinem litauischen Fußballtrikot und ertränkte das leuchtende Gelb.
Galya machte einen Schritt zurück. Das Blut auf dem Linoleum lief auf ihre nackten Füße zu. Es leckte schon an ihren Zehen, warme Küsse des Sterbenden, dessen Augen sich schon trübten. Er rutschte an der Wand zu Boden.
Aus ihrem Bauch sprang ein Schrei, doch sie presste die freie Hand auf den Mund und fing ihn noch im Mund ab. Die Hand auf ihren Lippen war schmierig, und dann konnte sie es auch schmecken.
Ihr drehte sich der Magen um, zwischen ihren Fingern quoll Erbrochenes hervor. Die Beine sackten ihr weg. Wie ein Zug schoss der Fußboden auf sie zu.
Der Länge nach lag sie in der heißen Pfütze. Sie versuchte herauszukrabbeln, aber das Blut auf ihrer nackten Haut war zu glitschig.
Erneut kam der Schrei hoch, und diesmal konnte sie ihn nicht unterdrücken. Obwohl sie wusste, dass er sie umbringen würde, ließ Galya ihn entfleuchen wie einen verschreckten Vogel, der aus dem Käfig ihrer Brust entkam.
Der Heulkrampf presste ihr den letzten Atem aus den Lungen. Sie rang nach Luft, hustete, rang erneut nach Luft, versuchte, klar zu denken.
Sie lauschte über das Rauschen in ihren Ohren hinweg.
Nichts zu hören außer dem erstickten Blubbern aus der Kehle des Mannes. Dann ein Klopfen an der Schlafzimmertür. Tränen schossen ihr in die Augen, die Tränen eines verängstigten kleinen Mädchens, aber Galya blinzelte sie weg. Sie war kein kleines Mädchen mehr, schon seit dem Tag nicht, als ihr Vater vor über einem Jahrzehnt gestorben war.
Denk nach, denk nach, denk nach!
Immer noch hielt sie die gläserne Klinge in den blutverschmierten Fingern. Die Spitze fehlte, der umgewickelte Stoff war durchtränkt. Vielleicht konnte sie die Kerle ja auf Abstand halten. Sie würden ihren toten Freund sehen und wissen, dass Galya ihnen dasselbe antun konnte.
Noch ein Klopfen, diesmal lauter. Der Türgriff klackte.
»Tomas?«
Angst durchfuhr sie. Nein, mit einer Glasscherbe würde sie die Männer nicht aufhalten können. Wieder drohte ein Weinkrampf. Noch einmal stemmte sie sich dagegen.
»Tomas?« Die Stimme lallte ein paar weitere Worte. Ein wenigLitauisch konnte sie zwar, aber nicht genug, um die betrunkenen Fragen zu verstehen, die von jenseits der Tür hereindrangen.
»Alles in Ordnung da drinnen?« Eine andere Stimme, in dem schroffen, näselnden Englisch, das in diesem fremden, kalten Land gesprochen wurde. »Hinterlass bloß keine blauen Flecken auf dem Mädchen.«
Wie viele waren es? Als sie angekommen waren, hatte Galya sich die Stimmen zu merken versucht. Zwei sprachen Litauisch. Einer davon lag jetzt neben ihr auf dem Boden. Der andere sprach Englisch mit so starkem Akzent, dass sie ihn als Iren identifizieren konnte. Einer der beiden Brüder, vermutete Galya. Die ganze Woche über hatte sie durch die verschlossene Tür ihre Gespräche belauscht und herausbekommen, dass der eine Mark hieß und der andere Sam. Heute Abend war nur einer der beiden da.
»Tomas?« Eine Faust hämmerte gegen das Holz. »Jetzt hör schon auf mit dem Scheiß da drinnen. Wenn du nicht sofort kommst und aufmachst, trete ich die Tür ein.«
Galya kniete sich hin und drückte sich hoch. Ein kalter Luftzug fächelte über ihren nassen Bauch und die Oberschenkel. Das einfache graue Sweatshirt und die Jogginghose, die sie ihr gegeben hatten, lagen auf der Frisierkommode. Sie griff danach und wechselte beim Überstreifen die Scherbe von einer Hand in die andere. Sie spürte, wie das Blut auf dem Stoff klebte. Es mochte vielleicht Unsinn sein, aber angezogen fühlte sie sich irgendwie sicherer.
Bei
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