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Sozialdemokratie nichts anderes sei als Sozialfaschismus, und trat der einzigen legitimen Vertretung des Proletariats bei, der Kommunistischen Partei. Zwei Jahre darauf begann sie ihre Arbeit als Anwältin bei der Roten Hilfe, der auch K. Kollwitz mit ihren Propagandaplakaten zuarbeitete.
Bürgerliche Historiker, Romantiker und Abweichler erinnern sich des Berlins der Weimarer Republik lieber als einer Verdichtung der »lauschigen Buchten und Logen« des Prinzesscafés, wo Georgs Bruder Walter und dessen Dichterfreund Heinle sich vor dem ersten Weltkrieg mit Prostituierten trafen. Sie gedenken der alten Herren der Preußischen Akademie mit Gehstock und Zylinder, letzte Überlebende einer absterbenden Klasse, die sich berufen fühlten, die Leistungen der Kollwitz zu »würdigen«, während sie doch objektiv betrachtet nicht mehr waren als auf bigotte Weise verfeinerte Abbilder jener Lesben aus der Schwerinstr. 13, die immerzu von den hübschen Knien einer gewissen Lina träumen mussten! Nun, sollen sich die Herrschaften der Bourgeoisie doch an Berlin erinnern, wie sie wollen. Wie uns der Genosse Chruschtschow versprochen hat: Wir werden sie zu Grabe tragen.
Vom Standpunkt unserer Heldin aus war Berlin nichts anderes als eine Kammer des Reichsarbeitsgerichts nach der anderen, wo sie zu einer der feurigsten Anklägerinnen des bürgerlichen Staates wurde, vom Andenken an den Genossen Liebknecht beseelt. Ungeduldig und zornig war in jenen Tagen ihre Liebe zur Zukunft, wie die einer Mutter, die ihrem Kind die Locken ein klein wenig zu fest bürstet und seine Schreie ignoriert, um es für die Schule fein zu machen. Wenn sie Streikende gegen aufgebauschte Vorwürfe der Störung des Arbeitsfriedens verteidigte, zeigte sie sich besonders unnachgiebig. Vor der 4. Strafkammer kämpfte sie Jahr um Jahr gegen den bösartigen Dr. Niedner. Je unzufriedener sie mit ihrer Umwelt wurde, desto überzeugender wurden ihre Träume. Deshalb waren ihre Reden bei Parteiaufmärschen, ihre Aufrufe, die Kapitalisten kompromisslos zu bekämpfen, so ein Erfolg; ihr verdanken wir die Losung Freiheit für die proletarischen Gefangenen! Ganz wie der Genosse Liebknecht forderte sie, die Organe des bürgerlichen preußisch-deutschen Staates durch Arbeiter- und Soldatenräte zu ersetzen und Generäle und den Adel vor Revolutionstribunale zu stellen. Ihre Mutter plagten inzwischen böse Träume; sie fürchtete, Hilde könnte
das Schicksal des Genossen Liebknecht ereilen. Hilde war bereit. Die Legende sagt: Schon damals war für die Kommunistin Hilde Benjamin der Kampf um die Erfüllung der Parteibeschlüsse die Grundlage ihres Schaffens.
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Im September 30 verteidigte sie den Arbeiter, den die von Klassenvorurteilen beherrschte Justiz der Republik des Mordes an dem Nazi-Provokateur Horst Wessel angeklagt hatte. (Er hatte Wessel tatsächlich ermordet, aber darum geht es nicht.) Die junge Anwältin machte in der ersten Reihe der wachsglänzenden Anklagebänke in dem vornehmen holzgetäfelten Gerichtssaal eine hervorragende Figur, denn sie war gelassen, bedacht und lächelte sogar. Der Angeklagte, dessen Augen vor Verzweiflung glänzten und dessen Kragen wirklich nicht sauber zu nennen war, flüsterte ihr wieder eine seiner Befürchtungen ins Ohr. Frau Dr. Benjamins Lächeln wurde noch etwas breiter. Beobachter, die ihr nicht gewogen waren, hätten es als verächtlich beschreiben können. – Gerade sitzen, sagte sie aus dem Mundwinkel. Benehmen Sie sich wie ein Mensch. Sehen Sie dem Feind ins Auge.
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Als sie vom Staatsanwalt aufgerufen wurde, hielt Horst Wessels Mutter die blutige Uniform ihres Sohnes in die Luft. Sie rief den Tag herbei, an dem die Deutschen sich für dieses und die vielen anderen Verbrechen an den Juden rächen würden. Frau Dr. Benjamin lachte spöttisch.
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Die Faschisten vergaßen sie nicht. Ihr sogenannter »Führer« soll ihren Namen auf eine Liste gesetzt haben. Frau Dr. Benjamin sagte dazu: Es müssen so viele andere Namen darauf stehen, dass ich alt und grau sein werde, bis ich an die Reihe komme! – In Wahrheit wurde ihr jedes Mal ganz flau im Magen, wenn sie die Nazis durch die Straßen marschieren sah oder, schlimmer noch, ihr Horst-Wessel-Lied singen hörte. Aber damals war unsere Linie: Je schneller diese Rohlinge an die Macht kommen, desto besser, denn sie würden die Widersprüche des Kapitalismus auf die Spitze treiben.
Immer, wenn sie einen Prozess verlor, hatte sie ein paar ganz besondere Worte für ihren
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