Eva Indra
schlüpfte mühsam in die frisch gewaschenen Jeans. Sie hatte vergessen, einen frischen Slip aus der Reisetasche zu nehmen, aber die Hose saß viel besser ohne etwas darunter, dennoch zog sie recht vorsichtig den Reißverschluss zu, ohne sich dabei ihre Schamhaare einzuklemmen und blickte auf den schwarzen Linoleumboden. Eilends hob sie Rock und Slip vom Fußboden auf, öffnete das Fenster in dem Klosett und quetschte die Kleidungsstücke durch den schmalen Fensterschlitz. Nun fühlte sie sich besser, als hätte sie endlich Abstand von den Geschehnissen genommen. Vielleicht schritt sie deshalb selbstbewusster entlang des Ganges und kam nur ein paar Schritte vor ihrem Abteil zu dem Entschluss, nicht Halt zu machen. Gänzlich unbeirrt passierte sie ihr Abteil, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Warum machte sie dieser Mann da drinnen nur so unglaublich nervös? Ziellos durchschritt sie einen Waggon nach dem anderen, bis sie schließlich die Türe des Speisewagens zur Seite schob. Der schmale, lange Raum strahlte wohltuende Ruhe und Gediegenheit aus. Warmes Licht schimmerte von den kleinen Tischlampen mit den großen runden Glühbirnen aus Milchglas. Weiße, gestärkte Tischtücher hingen verschwenderisch über den kleinen quadratischen Tischen. Dunkelrote Plüschbänke und der gleichfarbige Teppichboden verliehen dem Abteil das Flair eines verruchten Séparées. Polierte Gläser glitzerten wie kleine Brillanten in dem gedämmten Licht. Dicker Zigarrenqualm zog in großen Kreisen ringelnd zur Decke empor. Der Qualm kam von der dicken Cohiba Zigarre, an der ein graumelierte älterer Herr, ganz hinten in der Ecke, paffte.
Bei Annas Eintreten hatte er als einziger von seinem Corriere della sierra aufgeblickt, die anderen beiden Passagiere nahmen keine Notiz von ihr. Vielleicht hatte er aber auch nur aus dem Fenster geblickt, denn der Zug hatte sich bei Annas Kommen wieder ruckend in Bewegung gesetzt. Es war nun kurz vor Mitternacht, von Foggia aus ging es weiter Richtung Norden. Anna blickte überdrüssig aus dem Fenster und eine immense Müdigkeit machte sich in ihr breit, so überwältigend, dass sie fast eingeschlafen wäre, noch bevor sie etwas bestellt hatte.
„Buonasera, signorina!“, begrüßte sie der kleinwüchsige Kellner überschwenglich freundlich und riss sie aus ihren Gedanken. Die weiße, bis zum Kragen hochgeschlossene Jacke war dem Kellner viel zu groß, seine wenigen Haare hatte er glitschig mit Pomade aus dem Gesicht frisiert und sein Moschus getränktes Aftershave traf einen wie die Faust ins Auge.
„Che desidera?“, fragte er sie und blickte unverschämt direkt auf ihre Narbe.
17
Eva Indra Bis aufs Blut
„Un tè, per favore“, antwortete sie unbekümmert seines Blickes. Trinkgeld hätte sie ihm keines gegeben, doch da sie den eben bestellten Tee ohnehin nicht bezahlen konnte, war die Frage des Trinkgeldes so und so hinfällig. Wie sie ohne zu bezahlen diesen Waggon verlassen würde, machte ihr weniger Sorgen als die Begegnung mit dem Amerikaner in ihrem Abteil. Sein ironisches Frageantwort- Spiel und sein direkter, ja fast aufdringlicher Röntgenblick hatten sie aus dem Zugabteil vertrieben, dennoch war sie ihm dankbar für das Ticket nach Turin. Es war schon nervenaufreibend, dass sie auf seine Hilfe angewiesen war. Genau zu einem Zeitpunkt, wo sie am wenigsten Gesellschaft suchte und schon gar nicht von jemanden, dessen Augen sie beängstigend stark an Leonards Blick erinnerten. Aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Geistesabwesend betrachtete sie den aufgedunsenen Teebeutel im Glas, der lieblich dampfend in dem heißen Wasser schwebte, bis ihr Blick auf den Grisinis in dem Korb hängen blieb. Trotz der Vorfälle des Tages hatte sie einen dermaßen großen Appetit entwickelt, dass sie nun die knusprigen, länglichen Stäbchen gierig aus der knisternden Schale schälte, während ihre Augen neugierig durchs Abteil wanderten. Ihr Interesse beruhte auf der Tatsache, dass sie äußerst selten mit dem Zug reiste. Dieses neu entdeckte herrschaftliche Gefühl, das einen voll und ganz umgab, gefiel ihr so sehr, dass sie unwillkürlich an den Film von Agathe Christi Mord im Orient Expreß denken musste. Sie wäre nur zu gerne einmal mit dem Orient Expreß gereist. Sie hatte diesen Wunsch auch Leonard gegenüber erwähnt, aber er war nicht im Geringsten interessiert gewesen, denn er missbilligte es zu reisen. Seine häufigen Geschäftsreisen genügten ihm. „Reisen ist eine reine
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