Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
mit ihrer Singerei. Klar, dass sie Mamas Liebling war. Aber ich hab ein gutes Gehör. Wollte Elektriker werden und danach, wenn’s geht, Soundtechniker.“
„Kennen Sie Leute, mit denen Ihre Mutter Kontakt hatte? Freundinnen? Freunde?“ Ich habe das auch schon Céline gefragt, sie konnte mir niemanden nennen.
Roger schüttelt den Kopf. „Die hat keinen gehabt, nur uns. Die Großeltern sind tot, aber mit denen hat sie sowieso nie was zu tun haben wollen, waren total durchgeknallt, bei irgendeiner Sekte. Ich kann mich erinnern, mich wollten sie als Kind in irgend so einen Tempel schleppen, aber da hat sich meine Mutter total gewehrt. Und gewonnen. Die Tante kann man auch nicht Freundin nennen. Die hat sie immer nur schikaniert, dieser Trampel.“
„Sie meinen die Cousine Ihrer Mutter, der das Haus gehört?“
„Sie hat die Bruchbude von ihrer Mutter geerbt. Und meine Mutter musste ihr den ganzen Haushalt machen, damit sie dort wohnen durfte. Die Tante nutzt alle nur aus. Mich hat sie auch übers Ohr gehauen. Ich hab ihr die Heizung hergerichtet und sie hat mich dann nicht bezahlt, einer anderen hätte ich ein paar Kumpels vorbeigeschickt, aber in dem Fall, wegen Mutter … Ich hab mir nur geschworen, für die mach ich keinen Handgriff mehr.“
„Und was arbeiten Sie sonst so?“, wirft Vesna ein.
„Was ist das? Ein Verhör? Jobs gibt es genug, für einen Tag oder für eine Woche. Passt schon. Ich komm durch.“
Eine Stunde später stehe ich in Oskars Dachterrassenwohnung. Schön langsam sollte ich mir angewöhnen, sie als unsere zu bezeichnen. Aber es ist eben seine, er hat sie gekauft und eingerichtet und ich bin nach einigen Jahren als Pendlerin zwischen meiner und seiner Wohnung in seine gezogen. War eine schwere Entscheidung. – Was für ein Luxus, sich entscheiden zu können: Nette, wenn auch nicht noble Wiener Altbauwohnung oder Dachterrassenwohnung in der Wiener Innenstadt. Meine Wohnung gibt es noch, sie ist nicht einmal vermietet. Warum? Weil ich es immer wieder vergessen habe. Keine Zeit. Andere haben ganz viel Zeit. Zu viel Zeit. Célines Mutter konnte nicht einmal zwischen einer Billigsozialwohnung und einem Substandardhaus wählen. Gehört wirklich den Tüchtigen die Welt? Oder gehört sie einfach denen, die Glück gehabt haben?
Oskar ist noch nicht zurück. Natürlich arbeitet er eine Menge für sein Geld, aber: Er hat sich seinen Beruf aussuchen können. Und wenn er wollte, könnte er mit weniger Klienten auch ganz gut leben. Gewisse Zwänge gibt es überall. Worum es geht, ist die Möglichkeit, sich immer wieder neu zu entscheiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese zweiundvierzigjährige kaputte Frau es sich ausgesucht hat, die Tage in Gesellschaft ihres Mobiltelefons vor dem Fernseher zu verbringen. Gismo umschleicht mich. Ich streife durch den großen, offenen Raum mit der Glasfront hin zur Dachterrasse. Platz und Licht. Gismo maunzt ungehalten. Ja, gleich gibt es Abendessen. Vielleicht ist sie es, die es am besten hat. Sie fordert Essen und bekommt es. Sie hat Platz und tut, was sie möchte. Und sie hat kein schlechtes Gewissen, wenn es anderen beschissen geht. Mitten in unserem reichen Land. Vom schlechten Gewissen kann keiner abbeißen. – Was soll das sein? Eine Entschuldigung dafür, dass ich heute lieber nicht mehr an Plastikfußböden mit Lehm darunter denken möchte? Dass ich darüber nachdenken möchte, was ich Oskar heute Abend koche? Oder ob wir lieber auswärts essen?
Ich gehe zur Stereoanlage und schalte sie ein. Céline scheint sich befreit zu haben. Was ist der Preis? Hätte sie sich mehr um ihre Mutter kümmern müssen? Sie hat ihr zumindest bei den Behördenwegen geholfen. Vesna glaubt eher nicht an Mord, hat sie mir vor dem Café „End“ gesagt. Céline habe ein schlechtes Gewissen, sie wolle nicht einsehen, dass ihre Mutter mit zweiundvierzig Jahren einsam und körperlich am Ende auf den Eisenofen gefallen und verblutet ist. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Im Radio quatscht einer über Brecht und Weill und die politische Relevanz von Musicals in den Dreißigerjahren. Und dass es so etwas heute nicht mehr gäbe. Sie spielen etwas aus „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Ich mag diese Musik. „Oh show us the way to the next whisky bar …“ Da treffen sich Oskars und mein Musikgeschmack. Und bei gewissen Jazzstandards. Der Moderator setzt wieder zu wichtigen Worten an, ich gehe zur Küchenzeile und füttere Gismo. Sie frisst schnurrend, den
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