Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
deine faszinierende Gegenwart war nicht der Grund, warum ich meine Meinung geändert habe.« Raquel rollte sich auf den Bauch, sodass wir einander wieder ansehen konnten. Ihr dunkles Haar war sogar noch kürzer geschnitten als letztes Jahr, aber wenigstens hatte sie dieses Mal einen Friseur ans Werk gelassen, und es sah gut aus, fast ein bisschen wild und gefährlich. »Ich habe meinen Eltern mitgeteilt, dass ich es lieber irgendwo anders versuchen wollte und vielleicht zu meinen Großeltern nach Houston ziehen könnte, um dort zur Schule zu gehen. Sie wollten aber nichts davon hören. Evernight ist eine ›Privatschule‹ und noch dazu eine ›exklusive‹, und das sollte mir reichen, haben sie gesagt.«
»Und selbst als sie das … mit Erich erfahren haben …«
Raquels Mund verzog sich bitter. »Sie sagten, er habe vermutlich nur versucht, mit mir zu flirten. Sie meinten, ich würde zu sehr auf Distanz zu den Jungen gehen, und ich müsste es lernen, jemanden ›zurückzulieben‹.«
Ungläubig starrte ich sie an. Erich war kein übereifriger Möchtegern-Freund gewesen. Er war ein Vampir, der vorhatte, ihr nachzusteigen, um sie zu töten. Raquel wusste das zwar nicht, aber sie hatte sehr wohl begriffen, dass er gefährlich war. Wenn ich meinen Eltern davon erzählt hätte, dass jemand mir auch nur halb so viel Angst gemacht habe wie Erich ihr, dann hätte mein Vater mich vermutlich in den Arm genommen, bis ich mich wieder sicher gefühlt hätte, und meine Mutter wäre wahrscheinlich mit dem Baseballschläger auf jeden losgegangen, der es gewagt hätte, ihr kleines Mädchen zu bedrohen. Raquels Eltern hatten sie ausgelacht und sie zurück an den Ort geschickt, den sie hasste.
»Das tut mir leid«, sagte ich.
Sie zuckte mit einer Schulter. »Ich hätte es mir denken können, dass sie mir nicht zuhören würden. Das haben sie noch nie. Selbst als ich …«
»Als du was?«
Raquel antwortete nicht. Stattdessen rappelte sie sich auf, bis sie saß, und deutete vorwurfsvoll auf die Wand hinter mir. »Der Klimt bleibt uns also nicht erspart?«
Ich hatte den Druck über meinem Bett aufgehängt. Der Kuss war ungeheuer wichtig für mich, und ich hatte ganz vergessen, dass Raquel ihn bislang noch nicht gesehen hatte. »Was? Du magst das Bild nicht?«
»Bianca, es ist ein lebendes Klischee. Man kann es sogar auf Kühlschrankmagneten, Kaffeebechern und solchem Zeug kaufen.«
»Ist mir egal.« Vielleicht war es blöd, etwas nur deshalb zu mögen, weil es allen anderen auch gefiel, aber wenn man mich fragte, dann war es noch blöder, etwas nicht zu mögen, nur weil es alle anderen auch begeisterte. »Es ist wunderschön, und es gehört zu meinen liebsten Besitztümern. Und außerdem ist das doch wohl meine Seite des Zimmers, also hör auf zu jammern.«
»Dann könnte ich meine Seite ja schwarz streichen«, drohte Raquel.
»Das wär gar nicht so schlecht.« Ich stellte mir vor, wie ich Sterne, die im Dunkeln leuchteten, auf die Wände und die Decke kleben würde, wie ich es in meinem Zimmer getan hatte, als ich noch klein gewesen war. »Eigentlich wäre das sogar super. Zu blöd, dass Mrs. Bethany das niemals erlauben würde.«
»Wer sagt, dass sie etwas einzuwenden hätte? Sie haben doch sonst alle Anstrengungen unternommen, den Ort hier so unheimlich wie möglich zu machen. Warum dann nicht noch überall schwarze Farbe?«
Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild der Schule mit ihren Steintürmen in glänzendem Schwarz - das war eigentlich das Letzte, was noch fehlte, um es auf eine Stufe mit Draculas Schloss zu stellen. »Auch die Badezimmer. Oder die Wasserspeier. Ich hatte zwar bislang nicht geglaubt, dass Evernight noch unheimlicher werden könnte, aber wer weiß?«
»Es wäre immer noch besser, als zu Hause zu sein.« Bei dieser Bemerkung hatten Raquels Augen einen seltsamen Ausdruck. Einen Moment lang waren sie so müde, dass meine Mitbewohnerin älter im Geiste zu sein schien als die Vampire, die uns bei der Versammlung umringt hatten.
Ich wollte mehr von ihr darüber erfahren, was sie mit ihren Eltern erlebt hatte, aber ich wusste nicht, wie ich sie danach fragen sollte. Ich suchte noch nach Worten, als Raquel unvermittelt knurrte: »Komm schon, hilf mir mal, das ganze Zeug wegzuräumen.«
»Welches Zeug?«
»Na, meine Sachen.«
»Oh«, antwortete ich, als wir aufstanden und zu ihren Kisten und der Reisetasche in der Ecke hinübergingen, » dieses Zeug hier.«
Nachdem wir ihr Bett bezogen und
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