Eviana - Ein leiser Zug von Magie
laufen.”
“Ich gehe den direkten Weg ,” Rangard hing seinen Gedanken nach, “ich möchte mir die Spuren etwas genauer ansehen.”
II
Eva Lotta saß schon seit sechs Uhr morgens in der Scheune und flocht Bastkörbchen. Als Frühstück hatte ihr Stiefvater ihr wie jeden Morgen ein Schälchen Haferbrei und einen Schluck Wasser gereicht. Immer wieder schaute er nach dem Rechten, das heißt er wachte sorgsam darüber, dass Eva Lotta keine Pausen machte. Als sie damals vor neun Jahren in genau so einem geflochtenen Korb vor der Tür gestanden hatte, hatte der Vater sie eigentlich gar nicht annehmen wollen. Sie hatten schon zwei Kinder und kamen mehr schlecht als recht über die Runden. Doch seine Frau hatte ihn bekniet. Sie hatte Angst, dass es Unglück bringen könnte das Kind zurückzuweisen. Und was würden die Nachbarn sagen? Und wenn es nun eine Belohnung gäbe, wenn die wahren Eltern einst auftauchen würden? Doch dieser Tag war nie gekommen, es gab keine Belohnung und Eva Lotta blieb das schwarze Schaf der Familie, die nicht wirklich ihre Familie war. Sie war eine ungewöhnlich geschickte Flechterin. Ihre Körbe waren die Schönsten weit und breit und ihr machte diese Aufgabe auch Spaß. Doch ihre Finger schmerzten und ihre Kehle war trocken. Das machte ihr nichts. Sie summte ein Lied vor sich hin. Ein Lied, von dem sie einst geträumt hatte. Der Text war in einer fremden Sprache und sie verstand ihn nicht, und doch ging ihr die Melodie und eben dieser fremde Text nicht aus dem Kopf. Was sie wirklich bedauerte war, dass sie nicht wie ihre Stiefgeschwister zur Schule gehen konnte. Ihr Bruder und ihre Schwester waren beide älter als sie, trotzdem mussten sie gar nicht im Haushalt helfen. Sie wurden um halb acht geweckt, bekamen je ein Rosinenbrötchen und eine heiße Milch mit Honig und wurden von der Magd zur Klosterschule gebracht, wo sie zusammen mit den anderen Klosterschülern im Lesen, Schreiben und Rechnen und in der Bibelkunde unterrichtet wurden. Doch nur die plumpen Lehrsätze aus der Bibelstunde blieben bei ihnen haften. ‘Der Pfarrer hat immer recht.’ ‘Wer zu viel weiß ist ein Kind des Teufels.’ Das konnten sie sich gut merken. Leider waren die beiden so ganz und gar nicht begabt und obwohl sie schon im dritten und somit letzten Jahr zur Schule gingen, konnten beide immer noch nicht richtig lesen, vom Schreiben ganz zu schweigen. Ihr Stiefvater zahlte viel Geld für das Privileg, dass seine Kinder die Klosterschule besuchen durften. Die Schule war sonst nur vornehmen Bürgern und Adligen vorbehalten. Doch mit den Bastkörben von Eva Lotta und der Landwirtschaft verdiente er viel Geld und konnte sich so Einiges leisten. Abends fragte er seine Sprösslinge ab. Doch da er und seine Frau ebenfalls weder lesen noch schreiben noch rechnen konnten, waren es Gespräche wie die von Blinden über die Farbe. Immerhin war es Eva Lotta hin und wieder gelungen, Blicke in das Lesebuch zu erhaschen und so hatte sie an diesen wenigen Tagen mehr gelernt als ihre Geschwister in all der Zeit in der Schule. Zum Glück musste ihr Pflegevater nachmittags auf den Markt um die Körbe zu verkaufen. Eva Lotta nutzte die Zeit meist aus um Reißaus zu nehmen und ihre Freunde im Wald zu treffen. Da sie so schnell und geschickt arbeitete, schaffte sie trotzdem ihr Tagespensum. Um 6 traf sich dann die ganze Familie zur Hauptmahlzeit des Tages, dem Abendessen. Eva Lotta durfte zwar am gleichen Tisch wie die anderen essen, bekam aber als Letzte die kleinste Portion und das schlechteste Stück.
Die Mutter litt unter einer schrecklichen Krankheit, der großen Strenge. So hörte man sie viel Schimpfen mit den Kindern, vor allem aber mit Eva Lotta. Morgens achtete sie auf den perfekten Sitz der Kleidung, kein Haar durfte zur falschen Seite stehen und selbst beim Einschlafen mussten die Kinder im Bett gerade liegen.
Endlich brachte die Magd das Abendessen herein. Heute hatte sie einen großen Schweinebraten zubereitet. Sein köstlicher Duft zog ihnen schon aus der Küche entgegen. Er war außen knusprig gebraten und innen ganz saftig. Dazu gab es eine leckere Biersauce und allerlei Gemüse, das die Magd am Morgen auf dem Markt am Fuße der Burg frisch erstanden hatte. Voller Vorfreude, ja Gier starrten die Familienmitglieder auf den Inhalt der großen Schale in der Mitte des Tisches, in der der Braten auf sie wartete. Die Mutter schnitt jedem eine große Scheibe vom Braten ab - jedem, außer Eva Lotta. Sie bekam einen
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