Evolution der Leere: Roman

auszuführen, von so etwas Kompliziertem, wie sich die Schnürsenkel zu binden, gar nicht zu reden. Ich hab mich in den RI-Systemen des Habitats einer mentalen Erweiterung unterzogen, bloß damit ich ordentliches Denken nicht verlerne. Und diese Hardware ist wirklich alles andere als jung und frisch.«
    Vorsichtig nahm der Delivery Man Platz. »Sind Sie wegen Justine rausgekommen?«
    Gore fuhr sich mit der Hand durch sein blondgelocktes Haar. »Hat 'ne Weile gedauert, was? Klar war es wegen Justine. Wie sonst könnte ich für sie träumen? Ich hab fünf riesige Konfluenznester, die den Asteroid eine Million Kilometer weit draußen umkreisen. Das Gaiafield, das sie fabrizieren, wirkt wie ein gigantisches Traumfängernetz. Wortwörtlich.«
    »Aber woher wollen Sie wissen, dass Sie ihre Träume geträumt haben, selbst mit so viel Unterstützung?«
    »Uns verbinden Familienbande. Die einzige Theorie, mit der bislang jemand rübergekommen ist.«
    »Also haben Sie's einfach mal probiert?« Der Delivery Man wusste, dass ein Tick zu viel Ungläubigkeit in seiner Stimme lag, aber irgendwie hatte die Vorstellung für ihn zu viel von einem Lotteriespiel.
    Gores goldenes Gesicht starrte ihn mit hartem Blick an. »Man muss auch mal spekulieren, um zu wachsen, Jungchen«, grunzte er. »Verdammt, was haben wir mit der Higher-Kultur bloß angestellt? Nie schwimmt ihr gegen den Strom, kämpft mal für was. Es ist wirklich zum Heulen, das mit ansehen zu müssen.«
    »Das würde ich von Ilanthe nicht gerade behaupten«, schoss der Delivery Man zurück. »Sie etwa?«
    »Ah, also steckt in Ihnen ja doch etwas Feuer. Gut. Ich hatte schon Angst, es schon wieder mit einem eierlosen Wunderknaben zu tun zu haben, der nicht kacken gehen kann, bevor er nicht alle seine Formulare ausgefüllt hat.«
    »Vielen Dank. Demnach sind Sie also ein weiterer Unterstützer der Conservative-Fraktion?«
    Gore kicherte entzückt. »Wenn Sie es so sehen möchten, dann ja.«
    »Na ja, was bliebe denn da noch?«
    »Ich spiele keine Spielchen mit Ihnen, Söhnchen. Ich bin die Fraktionsexekutive. Bin ich seit Jahrhunderten gewesen. Sehen Sie, das ist die Sache mit politischen Bewegungen, ihre Führer reißen sie mit, und wenn sie ihren Job gut machen, folgen alle Mitglieder wie brave kleine Schafe. Und überhaupt, wer hat jemals behauptet, dies wäre eine Demokratie?«
    »Aber ...« Der Delivery Man war über diese Vorstellung entsetzt. »Es muss aber doch eine Demokratie sein, sämtliche ANA-Fraktionen sind demokratisch.«
    »Wenn eine Fraktion demokratisch konstituiert wurde, dann ist sie es auch, und bei vielen der anderen ist das tatsächlich der Fall. Waren Sie bei der ersten Ausschusssitzung der Conservatives dabei, als ich in Einklang mit der Vereinbarung unserer Ideale die Charta verfasst habe? Nein. Und wissen Sie, warum nicht? Weil es nämlich so eine Sitzung nie gab. Es gibt keine Charta, ihr tut lediglich einfach alle, was ich euch sage. Die Conservative-Fraktion ist nur eine Idee, der man anhängen kann. Und eine populäre dazu. Wir brauchen keine Politiker und Debatten und all diese Scheiße. Wenn eine der anderen Fraktionen irgendetwas unternimmt, um ANA oder das Commonwealth aus dem Gleichgewicht zu bringen oder zu unterminieren, benutze ich die Fraktion als Instrument, ihr gehörig was auf die Finger zu geben. Oder dachten Sie etwa, das Protektorat wäre von selbst aus dem Boden geschossen, um die Externen Welten vor den Radikalen Highern zu schützen? Wie fing es an mit dem Protektorat? Wer hat es bezahlt? Wer hat das Ausmaß der Gefahr aufgedeckt? Und wo wir gerade davon reden, wo kommen die Radikalen Higher überhaupt her; eine in der Natur der Sache liegende Erweiterung der Higher-Philosophie sind sie wohl kaum, oder was meinen Sie?«
    »Oh Ozzie«, ächzte der Delivery Man.
    »Seien Sie also unbesorgt, die Conservative-Fraktion ist gesund und munter. Genau wie die Accelerators es unter Ilanthes erleuchteter Führerschaft sind. Oder haben Sie vielleicht geglaubt, die haben alle für ihr eigenes Begräbnis gestimmt, während sie in die Leere abdüst und dort glücklich bis ans Ende ihrer Tage lebt?«
    »Scheiße.« Die Erkenntnis, mit einem Mal so einfach und klar, hätte eigentlich als Erleichterung daherkommen sollen; stattdessen war es nur mehr Bitterkeit, die der Delivery Man empfand. Bitterkeit über die Manipulation. Bitterkeit über die gewaltige Lüge. Bitterkeit und Schande darüber, dass er darauf hereingefallen war. Wie so viele.