Ewiger Schlaf: Thriller
blieb ein Automat, der durch das Auf und Ab des Lebens ging, ohne etwas zu fühlen, und der sich fragte, ob womöglich sogar seine Erinnerungen erfunden waren. Einige Pflichten ihres Amts hatten Mallory wirklich etwas bedeutet – die Krankenhäuser, die Heime für geistig behinderte Kinder, die wahren Dinge –, doch die Feiern zur Eröffnung von Läden und Autohäusern ließen sie ungerührt, ja, deprimierten sie.
Waters kniete am Rand des Grabs und legte die rechte Hand flach aufs Gras. Keine zwei Meter unter seiner Handfläche lag der Körper, mit dem er hunderte Male geschlafen hatte, manchmal sanft, manchmal wild und mit einer verzweifelten Leidenschaft, die sich nicht stillen ließ. Wie konnte dieser Körper jetzt kalt und reglos dort liegen? Waters war 41, Mallory wäre jetzt 42. Ihr Körper war 42, wurde ihm bewusst, doch das Verstreichen der Zeit bedeutete für sie jetzt nur noch Verfall. Morbide Gedanken, aber wie konnte er sonst an sie denken, hier, unter dem ausdruckslosen und unbarmherzigen Starren dieses Steins? Vor zwanzig Jahren hatten sie sich oft hier auf dem Friedhof geliebt. Sie hatten einander durch die Tunnel im hohen Gras gejagt, weglose Pfade, von einer Armee alter schwarzer Männer mit Rasenmähern geschaffen, und waren einander in die Arme gefallen, unter der hellen Sonne und begleitet vom Summen der Grashüpfer, das Leben bejahend inmitten des Todes.
»Zehn Jahre tot ...«, murmelte er.
In der emotionalen Talsohle, in die ihn diese unerwartete Trauer versetzte, stiegen unzählige Bilder wie Luftblasen aus seinem Unterbewusstsein empor. Die ersten ließen ihn erschauern, denn es waren die gewohnten, lebendigen Bilder voller Gewalt und Blut. Normalerweise verschloss sich Waters vor diesen Bildern und unterdrückte damit auch alle anderen Erinnerungen. Aber heute leistete er keinen Widerstand, denn hier, im Schatten dieses Steins, war die Realität unübersehbar: Mallory Candler war tot. Hier konnte er sich den furchtbaren Erinnerungen stellen, die er sonst im Verborgenen hielt, da sie ihn an die Gefahr erinnerten. Daran, dass Mallory zweimal versucht hatte, ihn zu töten – und es vielleicht wieder versucht hätte. Oder, schlimmer noch, dass sie seiner Frau etwas angetan hätte, wie sie ihm gedroht hatte.
Doch an diesem ruhigen Ort stiegen auch weniger blutrünstige Erinnerungen in ihm auf. Er konnte Mallory sehen, wie er sie am Anfang gekannt hatte. Am deutlichsten erinnerte er sich an ihre Schönheit und ihren elan vital, denn beides war untrennbar verbunden. Das Erste, das man wahrnahm, war ihr Haar: eine prachtvolle, mahagonifarbene Mähne, schimmernd und geschmeidig und akzentuiert von einer glänzenden kupferfarbenen Strähne, die vom Scheitel bis zu den Schulterblättern reichte. Jeder, der diese Strähne sah, hielt sie für gefärbt, doch sie war natürlich gewesen, in Mallorys Genen angelegt, ein gottgegebenes Zeichen für die Unberechenbarkeit ihrer Natur. In einer Menschenmenge war Mallory nicht zu übersehen. Im Wäldchen des Ole Miss College konnte sie von hundert Verbindungsschwestern umgeben sein – die Sonne würde sich genau diese flammende Haarsträhne ausersehen, die cremefarbene Haut, die rosa Lippen und die grünen Augen, und würde Mallory aus den anderen hervorheben wie ein Scheinwerfer die Primaballerina eines Balletts. Hoch gewachsen, ohne unbeholfen zu sein, üppig, ohne rundlich zu sein, und stolz, ohne arrogant zu wirken, zog Mallory Menschen mit einer mühelosen, aber unerbittlichen Macht an. Waters fragte sich oft, wie er in der gleichen Stadt wie Mallory hatte aufwachsen können, ohne sie vorher bemerkt zu haben. Doch sie hatten verschiedene Schulen besucht, und eine Einwohnerzahl von 25.000 (die Stadt war damals größer gewesen) machte es gerade eben möglich, einige Menschen nicht zu kennen, die das Kennenlernen wert gewesen wären. Darüber hinaus besaß Mallory eine Eigenschaft, die sie mit sehr wenigen Frauen ihrer Generation teilte: ein majestätisches Auftreten. Sie bewegte sich mit so vollkommener Körperbeherrschung und Selbstsicherheit, als wäre sie am Hofe eines Königs aufgewachsen – und dies veranlasste Männer und Frauen, sie mit Achtung zu behandeln.
Als Waters an ihre Anmut dachte, konnte er sie beinahe vor sich sehen. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass William Faulkner seine bedeutendsten Worte nicht in einem seiner Romane niedergeschrieben, sondern in einem in Paris geführten Interview gesagt hatte: Die Vergangenheit ist
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