Ewiger Schlaf: Thriller
würde er knapp 50 Kilometer flussabwärts Bohrproben hinaufholen, die einen winzigen Teil jener Geschehnisse preisgeben würden, die sich hier vor 60 Millionen Jahren abgespielt hatten. Verglichen mit solchen zeitlichen Dimensionen war die viel gepriesene Geschichte seiner Heimatstadt – sie reichte die nach menschlichen Maßstäben respektable Zahl von immerhin dreihundert Jahren zurück – ein Wimpernschlag.
Doch selbst aus der Sicht eines Geologen war Natchez einzigartig. Der Steilhang, auf dem die Vorkriegs-Stadt stand, war nicht durch den Fluss, sondern durch den Wind geschaffen worden. Äolische Ablagerung nannte man das: Lössboden. Natchez teilte dieses seltene Phänomen mit Gegenden in China und Österreich und zog Wissenschaftler aus der ganzen Welt an. Manchmal, nach starkem Regen, glitten ganze Abschnitte des Steilhangs wie Erdrutsche auf den Fluss zu, und im Laufe der letzten paar Jahre hatten Pioniere der Armee einen massiven Kampf gefochten, den Hang zu befestigen. Die Bürger, die entlang diesem von Kudzu-Pflanzen bewachsenen Abhang lebten, hielten hartnäckig an ihren Häusern fest, wie die Randfiguren eines Krieges – menschliche Metaphern für den Glauben, der die Stadt in guten wie in schlechten Zeiten am Leben gehalten hatte.
Waters wandte sich vom Fluss ab und ließ den Blick über das Reich aus weißen Obelisken, Mausoleen, Statuen und Grabsteinen schweifen, die sich über die sanften Hügel ausbreiteten. Man hätte mühelos eine Woche damit verbringen können, dieses Reich zu erkunden, ohne die zahllosen Geschichten, die zu den Gräbern gehörten, auch nur zu erahnen. Die Nachnamen auf den Steinen waren in der Stadt immer noch verbreitet; manche reichten sieben Generationen zurück. Natchez war die älteste Siedlung am Mississippi, und obwohl die Stadt Zeugin vieler Veränderungen geworden war – die Namen waren gleich geblieben. Inmitten der Grabmäler, jedes ein Prüfstein der Erinnerung, überwältigte Waters wieder einmal die Einsicht, wie inzestuös kleine Städte im Allgemeinen und Natchez im Besonderen waren.
Auf seinen Schultern bildete sich Gänsehaut. Er ging von Jewish Hill hinunter zum protestantischen Teil des Friedhofs und ließ dabei den Blick über die Grabsteine wandern. Er stieg einen steilen Hügel hinunter und durchquerte eine Reihe knorriger Eichen. Sein Blick fand beinahe sofort, was er suchte. Ihr Stein war leicht auszumachen: schwarzer Alabama-Marmor, mit gräulichem Weiß geädert. Er überragte die umliegenden Steine um gut einen Meter. Tief eingemeißelt in seine spiegelglatte Oberfläche waren große römische Lettern, die aussahen, als könnten sie schon tausend Jahre dort sein.
MALLORY GRAY CANDLER
Miss Mississippi 1982
Als Waters sich dem Stein näherte, wurden die kleineren Buchstaben deutlich erkennbar.
* Natchez, Mississippi, 5. Februar 1960
† New Orleans, Louisiana, 8. August 1992
»Das Licht, das doppelt so hell brennt,
brennt nur halb so lange.«
Er blieb stehen und stand schweigend vor der schwarzen Tafel. Er besuchte den Friedhof ziemlich oft, aber an diesem Grab war er noch nie gewesen. Bei der Familie war er unerwünscht, und er selbst hatte nicht das Bedürfnis, hierher zu kommen. Seinen Abschied von Mallory Candler hatte er längst schon genommen, und es hatte ihn beinahe das Leben gekostet. Deshalb überraschte ihn jetzt die Inschrift. Das Zitat stammte aus Blade Runner, einem Film, den Mallory mit Waters zusammen gesehen hatte. Der Satz hatte ihr so gut gefallen, dass sie ihn in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Wahrscheinlich hatte ihre Familie ihn dort nach ihrem Tod entdeckt und beschlossen, dass er ihre Persönlichkeit traf – und so war es auch. Dass Mallory Candler sich provokative Filme wie Blade Runner angesehen hatte, während ihre Altersgenossinnen bei Endless Love dahinschmolzen oder die Tänze aus Flashdance übten, sprach Bände über sie; es war eine ihrer Eigenschaften, die nur wenige gekannt hatten. Mallory spielte die typische Südstaatenschönheit so perfekt, dass Waters seines Wissens der Einzige war, der die vielschichtige Frau hinter dieser Fassade kennen gelernt hatte. Er war sich fast sicher, dass ihr Ehemann sie nicht wirklich gekannt hatte.
In dem Jahr, als Mallory die Krone der Miss Mississippi trug, sagte sie zu Waters, sie fühle sich manchmal wie die schöne Androidenfrau in Blade Runner – perfekt ausgebildet, erfahren und scheinbar makellos, sodass ihr eigener Realitätssinn sie verließ. Übrig
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