EwigLeid
sein.
31. KAPITEL
Carrie wartete, während Turner ihre Handfesseln mit dem Messer durchschnitt. Die Mündung der Pistole hielt er dabei direkt an ihren Kopf. Stechender Schmerz fuhr durch ihre Hände, als das Blut zurück in die Finger strömte. Sie schüttelte sie aus. Turner reichte ihr das Gewehr.
„Ich brauche noch einen Moment. Meine Hände sind taub.“
Er versetzte ihr mit Jases Waffe einen Schlag gegen den Hinterkopf, und sieverbiss sich einen unwillkürlichen Schmerzensschrei.
„Du hast einen Schuss“, fauchte er. „Schieß jetzt.“
Carrie hob den Sucher ihres Gewehrs ans Auge und zielte auf die winzige Glasscherbe auf Maria Nelsons Schulter. Die Scherbe war genauso groß wie ein Zehncentstück, wie sie mit widerwilliger Faszination erkannte. Der Scheißkerl nahm sie beim Wort.
Sie atmete ein paar Mal tief durch und sammelte ihre Kräfte. Sie versuchte, nicht an Jase zu denken, der verblutete und starb, der vielleicht schon tot war. Sobald sie abgedrückt hatte, würde Turner nachsehen, ob sie getroffen hatte. Dadurch gewann sie eine, vielleicht zwei Sekunden Zeit, ihn zu überrumpeln.
Noch einmal atmete Carrie tief ein und zielte. Zielte auf die winzige Scherbe, kaum fünfzehn Meter entfernt. Konzentrierte sich auf das Gewicht des Gewehrs in ihren Händen. Zielte. Und drückte ab.
Nichts. Nichts geschah. Sie drückte den Abzug noch einmal. Immer noch nichts.
Sie begriff und wurde von Entsetzen erfasst.
Ihr Gewehr war nicht geladen.
Hinter ihr lachte Turner. „Hast du wirklich geglaubt, ich wäre so blöd, dir ein geladenes Gewehr zu überlassen? Aber, verdammt, du hast Mumm. Du hättest es wirklich geschafft, wie? Perfekt.“
Dann küsste Turner ihr Ohr, und Carrie entzog sich ihm nicht einmal. Er hatte gewonnen. Er würde sie töten. Dann Jase. Dann Maria Nelson. Drei auf einen Streich.
Eine blitzartige Bewegung, und Turner ließ sie los. Carrie fuhr herum und sah Jase.
Die beiden Männer kämpften, ihre Körper warfen sich hin und her, während jeder versuchte, den anderen niederzuringen. Carrie rannte hinzu, bereit, Turner mit dem Gewehrkolben eins überzuziehen. Doch in dem Kampfgewühl war ein Körper nicht vom anderen zu unterscheiden. Carrie sah Jases Waffe auf dem Boden liegen, versuchte, sie zu erhaschen, und betete, dass Jase noch ein paar Sekunden durchhielt. Sie bekam die Pistole zu greifen und drehte sich um. Schussbereit.
Doch sie konnte nicht schießen. Turner hielt Jase vor seinen Körper, benutzte ihn als Schild und hielt ihm das Messer an die Kehle. Unwillkommene Bilder wirbelten Carrie durch den Kopf. Bilder von Kelly Sorensons, Tammy Ryans und Tony Higgs’ blutigen Überresten. Wie Kellys Mitbewohnerin und Nora Lopez geweint hatten, als sie vom Tod ihrer geliebten Freunde erfuhren. Carrie hatte sie voller Mitgefühl, aber mit der für ihren Beruf unerlässlichen emotionalen Distanz angesehen. Jetzt war sie gezwungen zuzusehen, wie ein Wahnsinniger einem Menschen, den sie liebte, das Messer an die Kehle setzte.
Sorge. Angst. Panik. Die Empfindungen trafen sie mit der Macht eines Boxhiebs. Ihr Atem ging viel zu rasch, und sie fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren.
Sie holte tief Luft. Und noch einmal. Sie schaffte es. Halte durch, ermahnte sie sich. Konzentrier dich auf das, was getan werden muss.
Sie musste Turner in ein Gespräch verwickeln.
Reden würde ihn ablenken. Außerdem hatte er die Angewohnheit, mit der Hand, die das Messer hielt, zu gestikulieren, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Es waren kaum merkliche Bewegungen, aber vielleicht reichten sie aus, um ihr eine Chance zu öffnen.
Falls Jase so weit bei Kräften war, dass er ihr helfen konnte.
Sie blickte Jase in die Augen und vermittelte ihm, dass sie fest an ihn glaubte. Halte durch, Jase. Nur noch ein bisschen. Halte durch.
Sie zielte und verlangte gebieterisch: „Lass die Waffe fallen.“
Sekundenlang wirkte Turner nervös. Dann fing er an zu lachen. „Ich soll die Waffe fallen lassen? Wohl kaum. Im Gegensatz zu dir habe ich eine Geisel. Ich glaube, es wäre besser, wenn du deine Waffe fallen lassen würdest, oder?“
Wieder drohte die Angst sie zu überwältigen. Beim ersten Mal, als sie auf Kevin Porter schießen wollte, war sie zu keiner Bewegung fähig gewesen. Wenn es ihr jetzt wieder so erging? Wenn sie versagte? Wenn Jase ihretwegen sterben musste?
Sie sah Jase an. Er wankte, konnte sich kaum noch aufrecht halten. Sein Hemd war blutig, und Carrie wusste, dass er nicht mehr
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