Ex en Provence
der Sicherheitsgurte, Sauerstoffmasken und Notrutschen vielleicht gerade noch einem mahnenden Vermerk in der Personalakte wegen mangelnder Motivation entkommen würden. »Wenn ich noch irgendetwas für Sie tun kann, zögern Sie nicht«, spult sie herunter. »Das Team von Bürgermeister Jean-Pierre Pommery ist den Bewohnern von L’Oublie-en-Provence stets zu Diensten. Au-revoir.«
Verwirrt raffe ich die Zettel zusammen, von denen ich ja eigentlich nur einen einzigen haben wollte, und zerre Jule aus dem Rathaus.
Ich bin gelassen. Gelassen wie die Franzosen. Ich bin …
»Haben wir jetzt eine Alina?«, erkundigt sich Jule unschuldig, während ich sie fest an der Hand halte und durch die schmalen Gassen nach Hause steuere.
»Nein.«
»Aber warum denn nicht?«
… ganz gelassen.
»Es gibt keine Alina.«
Ich sehe mir das Blatt mit den Kontaktdaten von etwa 20 Tagesmüttern an. Die Namen von 19 sind mit dem Hinweis »ausgebucht« versehen. Dann wird es wohl Garance Dur, die scheint noch frei zu sein.
»Und so eine wie Alina?«, insistiert Jule.
Nein, »Garonz« klingt eindeutig nicht wie Alina.
»Gibt’s auch nicht.«
»Aber ich will so eine wie …«
Innere Ruhe. Ich ruhe in mir selbst.
»Gibt’s nicht.«
»Bist du sauer, Mama?«
»Nein.«
Immer schneller ziehe ich Jule über das Kopfsteinpflaster.
»Warum bist du denn sauer, Mama?«
»Ich bin nicht sauer.«
»Bist du doch.«
»Nein!«
Ein Glück, gleich sind wir zu Hause.
»Doch.«
»Nein!!!«
Ich kann die Bäckerei schon sehen. Alles wird gut.
»Achtung, Mama, Hundeschei…«
»Jule! Das sagt man …«
Unter meinen Converse gibt der Boden plötzlich nach. Er wird weich. Verdächtig weich.
»Mama! Das war der Haufen von diesem Würstchen von vorhin! Und du bist mitten reingelatscht.«
»Oh! Scheiße!!!«
»Mama, ich denke, das sagt man nicht?!«
4. Kapitel
Hi Bettina, Morgen ist Schulanfang. Jule kann kaum Französisch. Ich auch nicht viel mehr: Nourisson heißt Säugling, nourrice Tagesmutter. Fatal! Ich glaube … (22:10, 1. September)
… ich schaffe das alles nicht. (22:11, 1. September)
Ich sehe Bettinas SMS schon vor mir: »Kleines, stell dich nicht so an. Mach endlich dies, mach das …«
Bettina, hast du meine SMS nicht bekommen? Was ist los? Ich versuche nachher noch, dich auf dem Handy zu erwischen. (22:36, 1. September)
Eine halbe Stunde später
»… Der Teilnehmer ist zurzeit nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal ….«
Gehe jetzt ins Bett. Mache mir langsam Sorgen und rufe dich morgen in der Bank an. (23:58, 1. September)
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Donnerstag, 2. September, kurz nach acht Uhr: Rentrée!
Vor Jules Schule
»Guten Tag, Sie sind verbunden mit der Mailbox von Bettina Kirsch, Handelsbank Frankfurt. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht, ich rufe Sie umgehend zurück. In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an meine Sekretärin, Durchwahl -472.«
»Hallo, Bettina? Hier ist Anja. Es ist Donnerstag, kurz nach acht. Wir gehen gerade zu Jules Einschulung. Alles sehr aufregend. Bist du etwa noch nicht im Büro? Irgendwas nicht in Ordnung? Melde dich!«
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»Will doch nich«, sagt Jule knapp, als wir uns dem schmiedeeisernen Tor mit der Menschentraube davor nähern. »Will nich in die Schule. Hab’s mir anders überlegt. Komm, wir gehen wieder nach Hause, ein bisschen kickern, okee Mama?«
Jule macht auf ihren Crocs kehrt.
»Nein, mein Schatz, das geht nicht. Du bist doch schon angemeldet …«
… und außerdem will ich ja ein bisschen arbeiten.
»… und es wird bestimmt ganz toll in der Schule. Sieh mal, da sind schon viele nette Kinder, mit denen man sicher ganz, ganz viel lustige Sachen machen kann.«
Lügen? Ich? Aber immer, so als Profi-Mutter …
Vor uns stehen Dutzende Kinder und Eltern, die aussehen, als hätten sie sich für Weihnachten und Silvester zugleich gestylt. Bei ihrem Anblick fühle ich mich, als wäre ich in Latzhose beim Opernball aufgetaucht. Dabei habe ich mich für meine Verhältnisse und für einen ersten Kindergartentag ziemlich in Schale geworfen. Um mich herum sehe ich jedoch nur die geballte Macht französischen Chics. Obwohl …
… dieser Typ, der jetzt in Richtung Schultor geschlendert kommt, hat sich dem Dresscode irgendwie entzogen: Er trägt verwaschene Jeans zu ziemlich durchgelatschten Turnschuhen, und er hat seine Hände tief in den Taschen eines schlabbrigen Kapuzenpullis vergraben. Mit seinen offenbar schwer zu bändigenden hellbraunen Locken
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