Exil im Kosmos: Roman (German Edition)
war die Frage nach den Ursachen ihres vollständigen Verschwindens zu beantworten. Nahm man an – und die Annahme war keineswegs gesichert –, dass die Paläontologen die vielen verschiedenartigen Fossilien richtig sortiert und analysiert hatten, dann war diese Stadt von stämmigen kleinen Humanoiden erbaut worden, kaum anderthalb Meter groß, mit enormen Brustkästen und Schultern, langen und dünnen Fingern – acht an jeder Hand – und kurzen Doppelgelenkbeinen.
Sie waren von den bekannten Welten des Universums verschwunden, und in keinem anderen System gab es Wesen, die ihre Abkömmlinge sein könnten; vielleicht hatten sie sich in einen Teil der Galaxis zurückgezogen, der noch nicht von Menschen besucht worden war. Oder vielleicht waren sie eine nicht raumfahrende Rasse gewesen, die sich hier auf Lemnos entwickelt hatte und wieder untergegangen war, diese Stadt als ihr einziges Denkmal zurücklassend.
Der Rest des Planeten war ohne Spuren dieser alten Bewohner, obwohl außerhalb des Labyrinths und bis zu tausend Kilometer von ihm entfernt Gräberfelder meist kleineren Umfangs entdeckt worden waren, denen die meisten bekannten Knochenfunde entstammten. Vielleicht hatte die Zeit alle ihre kleineren Siedlungen ausgelöscht, und nur dieses Zentrum ihrer Kultur war dank seiner raffinierten Instandhaltungsmechanismen vom gleichen Schicksal verschont geblieben. Möglicherweise war diese Stadt, die vielleicht einer Million Bewohner Unterkunft gewährt haben mochte, ihre einzige Stadt gewesen. Ihr Verschwinden blieb ein ungelöstes Rätsel. Der teuflische Scharfsinn des Labyrinths mochte ein Hinweis darauf sein, dass sie in ihren letzten Tagen von Feinden bedrängt worden waren und sich in diese uneinnehmbare Festung zurückgezogen hatten, aber Müller wusste, dass auch dies eine bloße Spekulation war. Soweit die sichtbaren Tatsachen ein Urteil erlaubten, stellte das Labyrinth nicht mehr dar als einen Ausbruch von kultureller Paranoia, ohne eine Beziehung zur tatsächlichen Existenz einer äußeren Gefahr.
Waren sie von Lebewesen überrannt worden, für die das Labyrinth kein Hindernis darstellte? Waren sie in ihren eigenen Straßen abgeschlachtet worden, und hatten die mechanischen Straßenkehrer ihre Knochen fortgeräumt? Es gab keine Möglichkeit, das zu beurteilen. Sie waren fort. Müller hatte die Stadt verlassen vorgefunden, als ob sie niemals Leben beherbergt hätte; eine automatische Stadt, steril und leergeräumt. Nur Tiere bewohnten sie. Sie hatten Hunderttausende von Jahren gehabt, ihren Weg durch das Labyrinth zu finden und es in Besitz zu nehmen. Müller hatte einige dreißig verschiedene Arten gezählt, die kleinsten wie Mäuse, die größten nicht kleiner als Elefanten. Es gab Pflanzenfresser, die sich von der Vegetation einstiger Grünanlagen oder Gärten ernährten, und Raubtiere, die auf die Pflanzenfresser Jagd machten. Das ökologische Gleichgewicht schien vollkommen.
Nun war die Stadt sein. Er hatte den Rest seines Lebens, um ihre Geheimnisse zu ergründen.
Andere waren hierhergekommen, und nicht alle von ihnen waren Menschen gewesen. Bei seinem Vordringen hatte Müller die Überreste jener gesehen, die den richtigen Weg verfehlt hatten. In den Zonen H, G und F war er auf mehr als zwanzig menschliche Skelette gestoßen. Drei Männer hatten es bis in Zone E geschafft, und einer bis in Zone D. Müller war auf den Anblick ihrer Knochen vorbereitet gewesen; aber was ihn überrascht hatte, war die Ansammlung von fremdartigen Gebeinen gewesen. In H und G hatte er die Reste großer, drachenähnlicher Kreaturen gesehen, noch in die Fetzen von Raumanzügen gehüllt. Weiter innen lag ein ganzes Sortiment von Lebensformen, teils humanoid, aber stark abweichend von allem, was Müller je gesehen hatte, teils insektenhaft und mit chitinähnlichen Decken und Gliedern. Vor wie langer Zeit sie gekommen waren, wusste Müller nicht zu sagen; in diesem trockenen Klima mochten frei herumliegende Knochen viele hundert Jahre erhalten bleiben. Diese galaktischen Überreste waren eine ernüchternde Mahnung, dass das Universum voll von intelligenten Lebensformen war, und dass der Mensch, obwohl er in den ersten zweihundert Jahren extrasolarer Reisen keine lebende intelligente Rasse entdeckt hatte, früher oder später mit einer oder mehreren von ihnen zusammentreffen würde. Die Knochenlager auf Lemnos enthielten Relikte von knapp einem Dutzend verschiedener Rassen. Es schmeichelte Müllers Selbstgefühl, zu wissen,
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