Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
rechne man die russische Sechstagewoche auf unsere Wocheneinteilung um, sich eine Arbeitswoche von vierzig Stunden ergebe, unterbrach ihn Ignaz höhnisch. »Einen Schmarrn ergibt sich«, fuhr er ihn an. »Das weiß doch jedes Kind, daß nirgendsonstwo eine so schlimme Arbeitssklaverei herrscht wie bei deinen Sowjets.« Und als sich ihm Hanns geröteten Gesichtes zuwandte, machte er sich stark gegen ihn und fuhr fort: »Ist ja wahr. Das ewige Geschmarr von deinem Paradies. Das sind ja lauter blöde Lügen, was du daherredest.« In Hanns tauchten Erinnerungen an alte Zeiten auf, an die Auseinandersetzung auf seinem Segelboot. »Das sagst noch einmal«, forderte er den andern auf, er sprach jetzt sehr bayrisch. »Jawohl sag ich das noch einmal«, erklärte, sehr bayrisch auch er, Ignaz, und: »Ist ja lauter Schmarrn und blödes Gelüge«, wiederholte er tapfer. Da aber, empört, daß man eine so leicht nachprüfbare Tatsache wie die Durchführung der Sechstagewoche anzuzweifeln wagte, wurde Hanns zum Sohne Sepps, er rannte, dunkel überrötet, Ignaz an und landete einen wohlgezielten Faustschlag. Die andern sprangen dazwischen und trennten sie.
So primitiv Hannsens Antwort war, fast alle empfanden Genugtuung darüber, und Hanns ging nach Hause, allgemein beliebt. Ignaz selber konnte nicht umhin, sich beim Abschied zu einer Art Entschuldigung herbeizulassen.
Als Hanns den Nachmittag darauf Germaine zum letztenmal sah, sagte sie: »Ihr scheint euch ja gestern schön in die Haare geraten zu sein, du und mein Ignaz.« Hanns wollte ihr die Ursache erklären, doch sie unterbrach ihn: »Für Politikinteressier ich mich nicht, das hab ich dir schon einmal gesagt; ich glaub von vornherein, daß du recht gehabt hast.«
Hanns bat sie, sich, wenn er fort sei, seines Vaters anzunehmen. Der müßte, wenn man sich seiner nicht annähme, in Dreck und Schlamperei verkommen. Sie möge also Sepp, auch wenn er einmal an den Quai Voltaire umgezogen sei, weiter betreuen. Ihm, Hanns, sei es eine Beruhigung, ihn in ihren Händen zu wissen.
Madame Chaix war sich bewußt, keineswegs eine unersetzliche Aufwartefrau zu sein, und es freute sie, daß Hanns sie mit der Sorge für Monsieur, seinen Alten, betraute. Natürlich wird sie bei ihm bleiben, und gern. Monsieur, der Alte, ist vielleicht ein bißchen verrückt, aber auf alle Fälle ist er ein angenehmer Dienstherr und steckt seine Nase nicht in jeden Winkel, um nachzuprüfen, ob auch alles sauber sei, wie die selige Madame. Wenn Hanns es arrangiert, daß sie weiter bei Monsieur Trautwein bleibt, so ist das eher ein Dienst, den er ihr, als einer, den sie ihm erweist. »Es ist ein bißchen viel verlangt, Anns«, sagte sie lächelnd, »wenn ich, während ich auf dich scharf bin und dich nicht kriegen kann, deinen Alten betreuen soll. Aber ich mach es.«
Hanns hatte einen Ring für sie als Abschiedsgeschenk. Sie beschaute den Ring, lächelte, ein bißchen gerührt. Dann, unversehens, packte sie Hannsens Kopf und küßte ihn fest auf die Lippen, doch nicht mit der Wildheit von früher. »Adieu, Anns«, sagte sie, schaute ihn an mit jenem Blick, aus dem er nicht recht klug wurde, ein bißchen spöttisch, ein bißchen zärtlich, ein bißchen verliebt, gab ihm die Hand, und das letzte, was sie zu ihm sagte, war: »C’est dommage, quand même.«
Des merkwürdig singenden, schwebenden Tones, mit dem Germaine dieses ihr »C’est dommage, quand même« sagte, wird sich Hanns später noch oft erinnern. Es war Zärtlichkeit darin und Verachtung, und er selber wird in Zukunft noch oft denken: C’est dommage, quand même, voll Zärtlichkeit und Verachtung. Es wird aber seine freundliche und spöttische Erinnerung nicht nur Germaine gelten, sondern allem, was erim Westen hinter sich gelassen haben wird. Er wird an München denken und an das oberbayrische Land mit den Bergen dahinter, an die lateinischen und griechischen Stunden in seinem Gymnasium, an seine ganze humanistisch verblasene, bequem idealistische Erziehung, an das Segelboot auf dem Ammersee, an die behaglich grantigen Auseinandersetzungen mit dem Vater und an die vielen sonderbar verqueren westeuropäischen Vorstellungen von innerem und äußerem Komfort, von richtigem Leben, von Freiheit und von Demokratie. C’est dommage, quand même.
Von Individualismus, von Freiheit und von Demokratie war auch die Rede, als er an diesem Abend, das letztemal vor seiner Abreise, mit Vater Merkle zusammen war. Klemens Pirckmaiers närrisches Attentat auf
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