Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
den nächsten Winter wird er ja doch in dem Haus an der Rue de la Ferme verbringen.
Er fühlte sich nicht wohl in der Einsamkeit seiner Wohnung. Warum eigentlich ist er nicht zu der Gesellschaft gegangen, die der Vicomte d’Auriac heute abend gab? Aber dort hätte er sich bestimmt nach der Einsamkeit seiner Bibliothek gesehnt. Man wird grämlich und blasiert. Was man in der Jugend begehrt, das hat man im Alter die Fülle. Solange man gefräßig ist, hat man keinen Fraß, und wenn man den Fraß hat, hat man keine Zähne mehr.
Man sollte vielleicht trinken, um wärmer zu werden. Doch die Wärme, die einem das Trinken verschafft, ist eine falsche Wärme. Es ist ein bedenkliches Zeichen, daß er Lust aufs Trinken bekommt. In fünf Jahren wird er ein altes, versoffenes Gesicht haben, er sieht es deutlich vor sich. Er schaut sowieso schon aus wie ein altes Weib. Er wird nicht trinken.
Er fröstelte ernstlich. Er läutete Arsène und ließ sich die Füße einhüllen.
»Mich friert in meiner einsamen Größe.« Das ist aus irgendeinem Theaterstück: es ist ewig lange her, daß er das Stück gesehen hat, es war ein farbiges, romantisches Stück, eine Art Dramatisierung des Märchens vom König in Unterhosen. Ein Schwindler hat dem König ein, nicht vorhandenes, Prunkkleid angehängt, das infolge Magie nur von denjenigen soll erblickt werden können, die reinen, treuen Herzens sind. Also sehen es alle, auch diejenigen, die es nicht sehen. Der König schreitet feierlich einher, in Unterhosen, und er selber und alles Volk bewundert sein Kleid. Wie das Stück im einzelnen verläuft, wußte Wiesener nicht mehr, aber der Schlußszene entsann er sich. Da bricht ein fürchterliches Unwetter herein, alles Volk läuft davon, der König steht einsam in Sturm und Wolkenguß, und: »Mich friert in meiner einsamen Größe«, sagt er. Und nun erinnerte sich Wiesener auch des Dichters, der dieses Stück geschrieben. Es war ein jüdischer Dramatiker, er sollte den Schillerpreis bekommen für sein Stück; er bekam ihn aber nicht, Wilhelm der Zweite legte sein Veto ein, Wilhelm dem Zweiten war unbehaglich bei der Geschichte von dem König in Unterhosen.
Auch jetzt könnte man das Stück schwerlich in Deutschland spielen, selbst wenn es nicht von einem Juden stammte.
Wie lange noch wird man an unser Prunkkleid glauben? dachte er, und ihn durchzuckte ein kleiner Schlag, als er innewurde, daß er »unser« Prunkkleid gedacht hatte.
Er fühlte sich wahrhaftig nicht wohl, er fühlte sich matt, ihm war heiß und kalt in einem. Sollte eine Grippe im Anzug sein?
Ach, die Kälte kam nicht allein von außen. Verdrossen, feindselig starrte er auf den leeren Fleck.
Was hat er eigentlich? Wenn einer, dann sollte er dem Schicksal dankbar sein. Wenn einer, dann gehört er zu den Privilegierten dieser Welt von 1935. Unter den Schriftstellern des Dritten Reichs ist er der unabhängigste; er kann sich bestimmt mehr Sprünge erlauben als irgend jemand sonst, der heute inDeutschland gedruckt und gelesen wird. Freiheit. Er zuckte die Achseln. Das ist ein relativer Begriff, »ein bürgerliches Vorurteil«, wahrhaftig. Er hat mehr Freiheit als die meisten andern Bewohner dieses Planeten. Abhängig ist er im Grunde nur von seinem Bedürfnis nach Komfort. Komfort, freilich, den liebt er, an dem hängt er. Wenn er an die Front denkt, dann quälen ihn noch in der Erinnerung die Läuse mehr als die Angst vor dem Tod. Allein es besteht keine Gefahr, daß er sich diesen Komfort nicht sollte leisten können, solang überhaupt es Komfort gibt. Abhängig ist er also eigentlich nur von sich selber. Freiheit. Ist er nicht freier als zum Beispiel diese Emigranten, die sich so viel auf ihre Freiheit einbilden? Dabei haben sie keine richtigen Pässe, sie können sich nicht von einem Ort zum andern rühren, sie sind beaufsichtigt wie Galeerensträflinge. Er hingegen kann gehn, wohin er will, bleiben, wo er will, schreiben und denken, was er will. Ein bißchen vorsichtig natürlich muß er sein, aber wer muß das nicht? Können etwa diese Herren Heilbrun oder Trautwein schreiben, was sie wollen? Sie sollen es einmal versuchen, an der französischen Politik Kritik zu üben: da würde ihnen das »Wirtsland« schnell über den Mund fahren. Und wenn sie über Österreich oder über die Schweiz schreiben wollten, was sie denken, da wären sie über Nacht dort verboten. Wozu also sind die Herren eigentlich aus Deutschland weg? Freiheit. Ein vager Begriff. Frei war jener
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