Exodus
Läden. Während sie die Straße entlanggingen, die die beiden Städte miteinander verband, hatte Kitty das Gefühl, daß sich die Zeit zurückdrehte. Mit jedem Schritt wurde die Umgebung schmutziger und übelriechender, und die Läden kleiner und schäbiger. Im Bogen gingen sie zurück nach Tel Aviv und gelangten zu einem Markt, auf dem Juden und Araber ihre Waren feilboten. Auf der engen Straße drängten sich feilschende Menschen um einzelne Stände. Sie kehrten auf der anderen Seite der Allenby-Straße zurück, überquerten wieder den Mograbi-Platz und bogen in die Ben-Yehuda-Straße ein. Auch sie war eine breite, mit Bäumen bestandene Straße, und hier lag ein Boulevard-Café neben dem anderen. Jedes dieser Cafés hatte seine eigene Note und sein ganz bestimmtes Publikum. In dem einen trafen sich die Anwälte, in einem anderen die Sozialisten; hier die Künstler und dort die Geschäftsleute, und es gab auch ein Café, in dem vorwiegend ältere, pensionierte Leute saßen, die Schach spielten. Und alle Cafés auf der Ben-Yehuda-Straße waren voll von Leuten, die sich teils angeregt und teils aufgeregt unterhielten.
Die Straßenhändler, die die vielen vierseitigen Zeitungen verkauften, riefen in hebräischer Sprache laut die neuesten Meldungen aus: die Überfälle der Makkabäer auf den Flugplatz von Lydda und die Raffinerie bei Haifa, und die Ankunft der Exodus. Auf den Bürgersteigen bewegte sich ein ununterbrochener Strom von Menschen. Orientalen in östlichen Gewändern kamen vorbei und gepflegte Frauen in den neuesten Modellen aus einem Dutzend verschiedener europäischer Länder. Die meisten Passanten waren Einheimische in Khakihosen und weißen Hemden mit offenen
Kragen. Um den Hals trugen sie dünne Kettchen, mit einem Davidstern oder irgendeinem anderen hebräischen Anhänger, und die meisten hatten den Schnurrbart, das Abzeichen derer, die im Lande geboren waren. Es waren rauhe Menschen. Viele von ihnen trugen den blauen Kittel der Kibbuzbewohner und gingen in Sandalen. Die in Palästina geborenen Frauen waren groß, trugen einfache Kleider oder Hosen. Sie stellten einen herausfordernden Stolz zur Schau, der sich selbst in ihrem Gang ausdrückte.
Plötzlich wurde es auf der Ben-Yehuda-Straße still. Es war die gleiche plötzliche Stille, wie Kitty sie am Abend zuvor in dem Restaurant in Haifa erlebt hatte. Auf der Mitte der Straße kam langsam ein gepanzerter britischer Lautsprecherwagen angefahren. Oben auf dem Wagen standen englische Soldaten mit zusammengepreßten Lippen hinter Maschinengewehren.
ACHTUNG! BETRIFFT ALLE JUDEN! DER
KOMMANDIERENDE GENERAL HAT EINE SPERRSTUNDE VERHÄNGT. ALLE JUDEN MÜSSEN BEI ANBRUCH DER DUNKELHEIT VON DER STRASSE VERSCHWUNDEN SEIN! ACHTUNG! BETRIFFT ALLE JUDEN! DER
KOMMANDIERENDE GENERAL HAT EINE SPERRSTUNDE VERHÄNGT. ALLE JUDEN MÜSSEN BEI ANBRUCH DER DUNKELHEIT VON DER STRASSE VERSCHWUNDEN SEIN!
Die Mitteilung wurde von den Passanten mit Applaus und Gelächter quittiert.
»Paß auf, Tommy«, rief jemand. »Die nächste Querstraße ist vermint.«
Als die englischen Wagen verschwunden waren, nahm das Leben auf der Ben-Yehuda-Straße sehr bald wieder seinen normalen Verlauf.
»Bitte bringen Sie mich zum Hotel zurück«, sagte Kitty.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, in einem Monat werden Sie soweit sein, daß Sie gar nicht mehr ohne Aufregung leben können.«
»Ich werde mich nie daran gewöhnen, Ari.«
Sie gingen zum Hotel zurück, bepackt mit dem, was Kitty eingekauft hatte. In der kleinen, ruhigen Bar tranken sie einen Cocktail, und danach aßen sie zu Abend auf der Terrasse, von der man einen wunderbaren Blick auf das Meer hatte.
»Ich danke Ihnen für einen wunderschönen Tag«, sagte Kitty.
»Trotz britischer Patrouillen und Straßensperren.«
»Sie müssen mich nachher entschuldigen«, sagte Ari. »Ich muß nach dem Essen für eine Weile fort.«
»Und was ist mit der Sperrstunde?«
»Das betrifft nur Juden«, sagte Ari.
Ari verabschiedete sich von Kitty und fuhr mit dem Wagen zu dem Vorort Ramat Gan — dem »Hügelgarten«. Im Gegensatz zu den Reihenhäusern von Tel Aviv lagen hier einzelne Villen in schönen Gärten. Ari parkte, stieg aus und ging über eine halbe Stunde zu Fuß, um sicher zu sein, daß er nicht beschattet wurde.
Er kam zur Montefiorestraße 22, einer großen Villa, die einem Dr. Y. Tamir gehörte. Auf sein Klopfen hin erschien Dr. Tamir selbst an der Tür, begrüßte Ari mit
Weitere Kostenlose Bücher