Exodus
von Aquino bis zu Freud. Kein Buch war verboten, kein Thema schien zu hoch oder zu frei. Die Kinder waren politisch von einer Aufgeschlossenheit, die weit über ihre Jahre hinausging.
Der erste und wichtigste Lehrsatz, den die Erzieher ihren
Schützlingen einzuprägen vermochten, war, daß ihr Leben einen
Sinn hatte, daß es auf ein Ziel gerichtet war.
Gan Dafna hatte einen internationalen Lehrkörper, dessen
Angehörige aus zweiundzwanzig verschiedenen Ländern kamen. Kitty war die einzige Nichtjüdin und die einzige Amerikanerin, und das hatte zur Folge, daß man ihr ebenso zurückhaltend wie freundlich begegnete.
Ihre ursprünglichen Befürchtungen, daß sie auf feindliche
Ablehnung stoßen werde, erwiesen sich als unbegründet. Die geistig aufgeschlossene Atmosphäre, die in Gan Dafna herrschte, machte
diesen Ort mehr zu einer Universität als zu einem Waisenheim. Kitty wurde als Mitglied eines Teams willkommen geheißen, dessen oberstes Anliegen das Wohl der Kinder war. Mit vielen ihrer Kollegen freundete sie sich sehr an. Sie fühlte sich im Umgang mit ihnen wohl. Auch der Umstand, daß es sich um ein jüdisches Jugenddorf handelte, war unwesentlicher als sie gedacht hatte. Das Judentum beruhte in Gan Dafna mehr auf dem Nationalbewußtsein als auf religiöser Basis. Die rituellen Formen wurden hier nicht sehr beachtet; es gab nicht einmal eine Synagoge.
Obwohl sich die Berichte über blutige Ausschreitungen in allen Teilen Palästinas häuften, gelang es, Furcht und Sorge von Gan Dafna fernzuhalten. Doch auch hier war die Umwelt nicht frei von den sichtbaren Zeichen der Gefahr. Ein Stück oberhalb von Gan Dafna lag die Grenze. Beständig hatte man Fort Esther vor Augen. Die Schützengräben, die Unterstände, die Waffen und die militärische Ausbildung waren nicht zu übersehen.
Das Gebäude der medizinischen Abteilung lag in dem Verwaltungsbezirk am Rande der Grünfläche. Es umfaßte eine Abteilung für die ambulante Behandlung, eine gut eingerichtete Krankenstation mit zwanzig Betten und einen Operationsraum. Der Arzt, der gleichzeitig auch Yad El betreute, kam täglich. Außerdem gab es einen Zahnarzt, vier Lehrschwestern, die unter Kitty arbeiteten, und einen Psychotherapeuten, der ausschließlich für Gan Dafna da war.
Kitty führte ihr ambulantes Revier und ihre Krankenstation, nachdem sie den ganzen Betrieb völlig neu organisiert hatte, mit geradezu maschineller Präzision. Sie setzte genaue Zeiten fest für die Revierstunden, für die Krankenvisiten auf der Station, und für Massage, Bestrahlung und dergleichen. Sie verschaffte sich in ihrer Stellung einen derartigen Respekt, daß man in Gan Dafna erstaunt die Köpfe zusammensteckte. Die ihr unterstellten Schwestern hielt sie unauffällig in einem sehr genauen beruflichen Abstand, und sie lehnte für ihren Arbeitsbereich auch die Formlosigkeit ab, die sonst überall in Gan Dafna üblich war. Sie verhinderte die plumpe Vertraulichkeit, zu der die meisten Mitglieder des Stabes die Jungen und Mädchen ermutigten. Das alles war für Gan Dafna neu und ungewöhnlich. Man mußte ihr, ob man wollte oder nicht, Bewunderung zollen, denn die medizinische Sektion war am besten organisiert und die leistungsfähigste Abteilung des ganzen Jugenddorfes. In ihrem Bestreben, freie Menschen heranzuziehen, hatten die Juden allzuoft die Disziplin vernachlässigt, die Kitty Fremont gewohnt war. Man verübelte ihr die energische Art, mit der sie ihre Abteilung führte, jedoch durchaus nicht. Wenn sie ihre Dienstkleidung auszog, gab es in Gan Dafna niemanden, dessen Gesellschaft so begehrt war wie die ihre.
War sie als Abteilungsleiterin streng und energisch, so war sie ganz das Gegenteil davon, sobald es sich um »ihre« Kinder handelte. Die fünfzig Kinder von der Exodus blieben auch in Gan Dafna weiterhin die »Exodus-Kinder«, und Kitty Fremont gehörte zu ihnen. Sie war die »Exodus-Mutter«. So war es ganz natürlich, daß sie persönlichen Anteil an einigen dieser Jugendlichen nahm, die ernstlich seelisch gestört waren. Sie erklärte sich freiwillig bereit, dem Psychotherapeuten bei seiner Arbeit zu assistieren. Diesen seelisch gestörten Kindern gegenüber ging Kitty aus ihrer Reserviertheit völlig heraus; sie gab ihnen alle Liebe und Wärme, die sie zu geben vermochte. Die Tatsache, daß die Kinder in Palästina und in Gan Dafna waren, hatte eine große Heilwirkung; doch die
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