Exodus
hatten sie hervorgebracht! Heine und Rothschild und Marx und Mendelssohn und Freud — die Reihe war lang. Genau wie er, Johann Clement, waren auch diese Männer Deutsche — erstlich, letztlich und überhaupt.
Der Antisemitismus, so meinte Johann Clement, zog sich wie ein roter Faden durch die menschliche Geschichte. Er war nicht wegzudenken, war eine unumstößliche Tatsache. Unterschiede gab es nur in bezug auf den Grad und die Art. Zweifellos war er, Clement, sehr viel besser dran als die Juden in den östlichen Teilen Europas oder in den noch halb barbarischen Ländern Afrikas. Die Judenpogrome, wie etwa der von Frankfurt, gehörten einer vergangenen Epoche an.
Es war denkbar, daß Deutschland von einer neuen antisemitischen Welle erfaßt wurde, aber ihn würde sie nicht erfassen. Er würde auch nicht aufhören zu glauben, daß die Deutschen, ein Volk mit einem solchen kulturellen Erbe, letzten Endes doch diese Elemente, die vorübergehend die Herrschaft an sich gerissen hatten, ablehnen und ausbooten würden.
Johann Clement beobachtete die Entwicklung genau. Angefangen hatte es mit wirrem und wildem Gekeife. Dann kamen gedruckte Anschuldigungen und Unterstellungen. Dann ein Boykott jüdischer Geschäftsleute, und dann die Verunglimpfungen in der Öffentlichkeit, wo Juden auf der Straße geschlagen und an den Bärten gerissen wurden. Dann kam der nächtliche Terror der Braunhemden. Und dann kamen die Konzentrationslager.
Gestapo, SS, SD, KRIPO, RSHA. Bald wurde jede Familie in Deutschland von den Nazis bespitzelt, und der Würgegriff der Tyrannei wurde enger und enger, bis das letzte Röcheln des Widerstandes erstickte und erstarb.
Doch wie die meisten deutschen Juden glaubte Professor Johann Clement noch immer daran, daß ihm diese neue Bedrohung nichts anhaben werde. Die Universität war eine Insel, seine sichere Zuflucht, und er war der Meinung, durch und durch Deutscher zu sein.
Diesen einen Sonntag würde man nie vergessen. Die ganze Familie hatte sich bei Oma in Bonn versammelt. Sogar Onkel Ingo war den weiten Weg von Berlin herübergekommen. Alle Kinder waren nach draußen zum Spielen geschickt worden, und man hatte die Tür des Wohnzimmers abgeschlossen.
Auf der Rückfahrt hatten Mammi und Pappi nicht ein Wort gesprochen. Manchmal benahmen sich die Erwachsenen wirklich wie Kinder. Kaum zu Hause angekommen, wurde man schon ins Bett gesteckt. Diese geheimen Unterhaltungen wurden immer häufiger. Wenn man aber an der Tür stand und sie nur einen kleinen Spalt breit aufmachte, konnte man jedes Wort hören. Mammi war schrecklich aufgeregt, Pappi so ruhig und besonnen wie immer.
»Lieber Johann, wir müssen endlich irgend etwas unternehmen. Diesmal wird es auch uns treffen. Es ist schon so weit, daß ich Angst habe, mit den Kindern auf die Straße zu gehen.«
»Es ist wahrscheinlich nur dein Zustand, der dich alles als so schlimm ansehen läßt, schlimmer als es ist.«
»Seit fünf Jahren erzählst du mir nun, es würde besser werden. Aber es wird nicht besser.«
»Solange ich hier an der Universität bin, sind wir sicher.«
»Mein Gott, Johann — wie lange willst du dir denn noch etwas vormachen — wir haben keine Freunde mehr. Die Studenten kommen nicht mehr zu uns. Keiner von unseren Bekannten wagt es noch, mit uns zu reden.«
Johann Clement steckte sich seine Pfeife an und seufzte. Mirjam kauerte neben ihm auf dem Fußboden und legte ihren Kopf auf seinen Schoß, und er strich ihr über das Haar. Maximilian, der nahe bei ihnen vor dem Kamin lag, streckte sich und gähnte.
»Ich gebe mir ja solche Mühe, mutig und vernünftig zu sein wie du«, sagte Mirjam.
»Ich bin in diesem Haus geboren. Mein ganzes Leben, alles, was ich mir je gewünscht, alle Dinge, an denen je mein Herz gehangen hat, sind in diesen Räumen hier. Mein einziger Wunsch ist, daß unser Sohn Hans eines Tages dies alles ebenso lieben soll, wie ich es geliebt habe. Manchmal frage ich mich, ob ich recht gehandelt habe, dir und den Kindern gegenüber — aber irgend etwas in mir erlaubt mir nicht, davonzulaufen. Nur noch ein kleines Weilchen, Mirjam — das geht vorbei.«
9. NOVEMBER 1938
Hunderte von Synagogen niedergebrannt!
Tausende jüdischer Wohnungen demoliert!
7500 jüdische Geschäfte geplündert!
34 Juden ermordet!
Tausende von Juden schwer mißhandelt und verhaftet!
DER GESAMTHEIT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND WIRD HIERMIT EINE GELDBUSSE VON EINER MILLIARDE REICHSMARK AUFERLEGT!
DIE ARISIERUNG MUSS BESCHLEUNIGT
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