Ostfriesensünde
Der Nebel kroch wie ein Tier über den Deich und zog sich, als Ann Kathrin Klaasen näher kam, zurück, als hätte er Angst vor ihr. Sie blieb stehen. Sie hielt den Atem an und staunte nur. Der Nebel verharrte jetzt ebenfalls in seiner Position. Sie kam sich belauert vor.
Das glaubt mir kein Mensch, dachte sie, atmete aus und machte einen Schritt vorwärts auf das hüfthohe weiße Gebilde zu.
Feuchte warme Luft, die über dem Boden abkühlt, mehr ist das nicht. Nebel hat keine Augen. Keinen Verstand. Keinen Plan. Er ist nicht wie deine verfluchten Mörder, sagte sie sich. Der Nebel hat nichts Menschliches an sich.
Trotzdem wich er vor ihr zurück. Sie begann an ihrem Verstand zu zweifeln. War sie kurz davor, durchzudrehen? Hatte der ständige Umgang mit den Abgründen der menschlichen Seele sie endgültig geschafft?
Den Job kann keiner unbeschadet lange machen, Ann, hatte Weller zu ihr gesagt, und dabei den Rest vom Satz nur gedacht und nicht gesprochen: Eine Frau erst recht nicht. Sie hatte es ihm angesehen.
Sie breitete jetzt trotzig die Arme aus und rannte dann auf den Nebel zu. Vor ihr bildete sich eine Gasse. Der Nebel wich nach links und rechts aus.
Ann Kathrin lachte. So ähnlich musste Moses sich gefühlt haben, als sich vor ihm das Meer teilte.
Das Gewitter über dem Meer war so weit weg, dass Ann
Kathrin den Donner nicht hören konnte. Die Blitze über Norderney wurden von den Wolken reflektiert. Sie nahm sie als weiches warmes Licht wahr. Ein fernes Wetterleuchten. Trotzdem verlieh all das diesem verlassenen Küstenstreifen, an dem vor kurzem noch friedliche Touristen Wattwanderungen mit Kurt Knittel unternommen hatten, etwas Gespenstisches.
Ein Paar Turnschuhe von der letzten organisierten Wattführung waren liegen geblieben. Ann Kathrin stolperte darüber.
Sie blieb in ihrer Nebelschneise auf der Deichwiese stehen und rieb sich die Arme. Ob Frank schon zu Hause war? Sie stellte sich vor, dass er gerade seine berühmte Fischsuppe kochte.
Jetzt in der Küche zu sitzen und eine heiße Suppe zu löffeln war schon eine Verlockung, doch etwas hielt sie hier an dieser einsamen Stelle in Norddeich fest. Es war nicht nur das Naturschauspiel, sondern eine merkwürdige Vorahnung, als sei dies hier die Ankündigung einer großen Veränderung.
Aber zu Hause im Distelkamp 13 wartete Frank Weller nicht auf sie. Ann Kathrin fror. Mitten im August. Sie brauchte ihn jetzt so sehr! Ihn und nicht seine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Das Wort »Nachtschicht« hatte plötzlich einen schmerzhaften Klang.
Wie um sich selbst zu bestrafen, aß sie gar nichts, sondern wälzte sich in dem französischen Bett, das ihr noch nie so groß vorgekommen war. Sie drückte sich das Kissen gegen die Ohren, aber die Holzbalken hatten nie lauter geknarrt als in dieser Nacht. Der Wind hämmerte gegen das Garagentor und irgendwo im Haus klapperte eine Tür.
Ann Kathrin stand auf und ging noch einmal herum, prüfte, getrieben von einer inneren Unruhe, jedes Türschloss und ließ die Rollläden herunter.
Es war kurz vor halb vier morgens, als sie endlich einschlief.
An Tagen wie diesen neigte Ann Kathrin zu der Annahme, die Dinge hätten ein Eigenleben und würden sich gegen sie verschwören. Der Wecker zum Beispiel, der zwar die ganze Nacht laut tickte, aber ausgerechnet heute Morgen nicht klingelte, musste sich mit dem Vergaser abgesprochen haben. Oder warum war der ausgerechnet jetzt verstopft, wenn sie dringend zwanzig Minuten herausholen musste, um noch pünktlich vor Gericht zu erscheinen? Und wieso hatte ihr Handy, zum Teufel nochmal, hier keinen Empfang, wo sonst alle Balken im Display hell leuchteten?
»Zufall«, hatte ihr Vater gesagt, »ist das Pseudonym, das Gott wählt, wenn er inkognito bleiben möchte.«
Ihr Vater … Sie hatte heute Nacht wieder von ihm geträumt. Er und seine Sprüche. »Der Teufel ist ein Eichhörnchen.« Es kam ihr vor, als würde er sie aus seinem Grab heraus auslachen.
Sie hatte keine Lust, jetzt so weiterzumachen. Es war einfach nicht ihr Tag. Sie würde vor Gericht heute keine gute Nummer abgeben. Sie kannte Heiko Käfer, den Anwalt des Beschuldigten. Ein schmieriger Typ. Er hatte einen Ring kleiner, gelblicher Fettgeschwulste um die Augen und das Weiße in seinen Augen war gelblich verfärbt. Auch die braunen Hautflecken auf seinem Handrücken deuteten darauf hin, dass der Mann eine kranke Leber hatte, eine Fettleber, durch zu gutes Leben und zu viel Alkohol, vermutete Ann
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