Exodus
ihr denn?«
»Wir haben beschlossen«, sagte Rebekka, »daß ein paar von uns draußen bleiben sollen.«
Dov verstand noch immer nicht. Er wußte, daß ihn die Bauleute brauchten. Beim ganzen ZOB war keiner, der die verschiedenen Wege durch den Kanal so genau kannte wie er. Wenn der ZOB sich jetzt ernstlich auf die Verteidigung einrichten wollte, dann hatte er ihn doch noch nötiger als bisher. Außerdem war es durch die Ausweise und Reisepässe, die er gefälscht hatte, möglich gewesen, mehr als hundert Leute aus Polen herauszubekommen. Er sah seine Schwester und seinen Bruder fragend an.
Rebekka drückte ihm einen Briefumschlag in die Hand. »Da hast du Geld und Ausweise. Bleib so lange bei Wanda, bis sie eine Familie gefunden hat, die dich aufnimmt.« »Ihr habt gar nicht darüber abgestimmt. Das habt ihr beiden euch nur ausgedacht. Ich gehe nicht.«
»Du gehst«, sagte Mundek. »Das ist ein Befehl.«
»Das ist kein Befehl«, sagte Dov.
»Doch — ich befehle es dir als Oberhaupt der Familie Landau!« Sie standen zu dritt in einer Ecke des Bunkers. Es war sehr still in dem unterirdischen Raum. »Es ist ein Befehl«, wiederholte Mundek. Rebekka nahm Dov am Arm und strich ihm über das blonde Haar. »Du bist ein großer Junge geworden, Dov«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Gelegenheit gehabt, dich zu verwöhnen, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie du hundertmal in den Kanal hinunter gestiegen bist, und ich habe erlebt, wie du uns etwas zu essen gebracht hast, was du irgendwo gestohlen hattest. Du hast eigentlich kaum eine richtige Kindheit gehabt.«
»Das ist doch nicht eure Schuld.«
»Hör zu, Dov«, sagte Mundek. »Du darfst Rebekka und mir diesen einen Wunsch nicht abschlagen. Wir haben dir nicht viel geben können. Du mußt uns den Versuch erlauben, dir wenigstens dein Leben zu geben.«
»Mir liegt aber gar nichts an meinem Leben, wenn ich nicht bei euch sein darf.«
»Bitte, Dov — bitte verstehe uns doch. Einer von der Familie Landau soll am Leben bleiben. Wir möchten, daß wenigstens du am Leben bleibst — für uns alle.«
Dov sah seinen Bruder an, den er liebte und verehrte.
»Ich verstehe«, sagte er mit leiser Stimme. »Ja — ich werde leben.« Er sah auf das Päckchen und schlug es in ein Stück Segeltuch ein, damit es im Kanal nicht naß werden sollte. Rebekka drückte seinen Kopf an ihre Brust.
»In Erez Israel werden wir uns wiedersehen«, sagte sie.
»Ja, im Lande Israel.«
»Du warst ein guter Soldat«, ergänzte Mundek. »Ich bin stolz auf dich. Schalom Lehitraoth.«
»Schalom Lehitraoth«, wiederholte Dov.
Seinen dreizehnten Geburtstag verbrachte Dov Landau in den Kanälen unterhalb der Stadt Warschau, durch die er zu Wandas Wohnung watete, mit so schwerem Herzen, daß es beinahe brechen wollte. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Welt hätte er heute seine Bar Mizwah gefeiert und damit das Mitspracherecht des Mannes in der jüdischen Gemeinschaft erhalten.
Am 18. Januar 1943, drei Tage nachdem Dov das Ghetto verlassen und sich zu Wanda begeben hatte, wo er zunächst einmal sicher war, kamen die Deutschen, die polnischen Blauen und die litauischen Büttel in Massen in das Ghetto geströmt. Jetzt, da nur noch fünfzigtausend Juden übrig waren, sollte die »Endlösung« beschleunigt und mit Gewalt vollzogen werden. Doch die Deutschen und ihre Polen und Litauer liefen in einen Geschoßhagel, der ihnen aus den Verteidigungsstellungen des ZOB entgegenschlug. Sie erlitten schwere Verluste und mußten fliehen.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Warschau! Die Juden machten einen Aufstand!
Am Abend dieses Tages lauschte in Warschau alles gespannt auf die Stimme des Geheimsenders des ZOB, der immer von neuem diesen Appell wiederholte: »Kameraden, Landsleute! Wir haben heute einen Schlag gegen die Tyrannei geführt. Wir fordern alle unsere polnischen Brüder außerhalb des Ghettos auf, sich zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu erheben! Vereinigt euch mit uns!«
Dieser Appell stieß auf taube Ohren. Doch am Hauptquartier des ZOB auf der Mila-Straße wurde die Flagge mit dem Davidstern gehißt, und daneben flatterte die polnische Fahne. Die Juden des Ghettos hatten beschlossen, unter dem Banner zu kämpfen und zu sterben, unter dem zu leben man ihnen verwehrt hatte.
Die Männer des ZOB übernahmen die Macht im Ghetto. Sie setzten den Judenrat ab, machten mit allen, die als Kollaborateure bekannt waren, kurzen Prozeß, und bezogen dann die
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