Extraleben - Trilogie
nicht vergeigt ist, schmeißt man keine nach oder fährt vom Hit-Markt nach Hause. Ungerührt kauert mein Begleiter in seiner blauen Ledergalaxie. Als er sich schließlich zu mir umdreht, steht alles in seinen Augen. Weitere Fragen sind eigentlich überflüssig; trotzdem muss ich mich vergewissern.
»Um halb elf geht der Flug nach Kopenhagen und von da weiter nach Grönland. Du kommst nicht mit, oder?«
Nick zieht die Unterlippe leicht nach innen, auf diese »Tja«- Art und schüttelt leicht den Kopf. Dann faltet er die Hände und legt sie auf den Tisch vor mir, als wenn er im Beichtstuhl sitzt. Bevor er zu seiner Antwort ansetzt, atmet er noch einmal schwer durch und bläst die Luft zwischen den Zähnen durch.
»Weißt du, ich habe die Tage noch mal mit Sabina telefoniert, und wir haben uns überlegt, dass ...«
Wie ein Song, den der Radio-DJ vor der Werbung ausblendet, verschwindet der Rest seines Satzes in der Ferne. Ich bin nicht einmal überrascht, auch nicht eifersüchtig oder so, weil ich weiß, dass das nicht das Geringste mit uns zu tun hat. Nick hat sich ganz einfach entschlossen, nicht mehr Beifahrer sein zu wollen. Die letzten Jahre habe ich mich oft gefragt, warum er diesen Punkt nicht schon viel früher erreicht hat. Ich bin irgendwie stolz auf ihn. Für ihn heißt es Game Over, er schafft den Absprung noch, ist rechtzeitig zu Mutters Mittagessen zuhause. Aber für mich ist es zu spät. Unweigerlich muss ich lächeln. Nick merkt es und bricht etwas verstört seine Entschuldung ab: »Was?«, sagt er und wirft die Stirn wieder auf diese Jungsart in Falten.
»Nichts«, sage ich, »macht mal. Meinen Segen habt ihr.«
Nick grinst, als ob er den Endgegner geschafft hat, und kriegt sogar ein wenig rote Wangen. Doch der Gefühlsausbruch dauert nur wenige Augenblicke, dann schaut er auch schon wieder verlegen auf seine Uhr.
»Hör mal, die Maschine nach Frankfurt geht ...«
Ich bin fest entschlossen, es ihm einfach zu machen: »Jap, ich weiß. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Hau ab, ich mach das hier.«
Wir stehen gleichzeitig auf. In Zeitlupe schieben wir unsere Stühle nach hinten, während aus den Boxen »Moon River« zirpt. Wenn schon Mancini, warum nicht jetzt »Two for the Road«? Ich fühle mich wie an dem Tag, an dem der Herbst immer anfängt. Ab jetzt geht der Abschied ganz schnell. Nick haut mir mit der Faust auf den Rücken: »Hol den Highscore für uns, okay?«
»Werde ich machen.«
Da ich merke, wie meine Stimme bricht, lasse ich das obligatorische »Alter« weg. Bevor die Kontrolle zurückkommt, hat Nick schon seine Rechnertasche geschnappt. Das Letzte, was ich von ihm sehe, ist der Rücken seiner Jeansjacke. wie er Richtung Fahrstuhl verschwindet.
LEVEL 30
Als ich klein war, brachte mir mein Vater von einer seiner vielen Geschäftsreisen mal einen Taschenatlas von der Lufthansa mit. Es war ein hochformatiges Büchlein, mit einem Pappumschlag im typischen Dunkelblau der Airline.
»World Atlas« stand in eleganter weißer Helvetica drauf, darunter strahlte eine kleine Weltkugel. Das Buch wolle eine Hilfe sein »für alle Geschäftsfreunde, die viel in der Welt herumkommen«, verkündeten die Lufthanseaten auf der ersten Seite. Eine Zeit lang war der Atlas meine absolute Lieblingslektüre. Immer wieder schaute ich mir die Karten an, versuchte, mir die Landesflaggen einzuprägen, und quälte mich durch die kleinen Länderporträts. die so steif und trocken formuliert waren, wie es nur ein deutscher Ingenieur kann. Da stand zum Beispiel: »Rhodesien. Landesnatur: von Hügelketten durchzogenes Hochland. Wirtschaft: Von großer Bedeutung sind Bergbau (Chrom, Asbest) und darauf aufbauende Industrie.«
Aber gerade dieser nüchtern-geheimdienstartige Stil machte die Lektüre so spannend; Jungs im Grundschulalter lieben einfach den harten Ton der Geschäftsfreunde - und überhaupt alles, wofür sie erkennbar nicht die Zielgruppe sind. Also las ich alles über Länder wie Transkei, Ngwane oder Saô Tomé, »Kennzeichen: Gebirgige Vulkaninseln. Minderheit von Mulatten«.
Und häufig stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, mit einer alten Douglas DC-3 auf dem einzigen Flugplatz von Bhutan aufzusetzen und in der Staatssprache Dsongha begrüßt zu werden. Heute bin ich mir sicher, dass es sich wahrscheinlich nicht anders anfühlt, als in Leipzig-Halle zu landen. Denn jeder Flughafen rund um diesen Globus, und sei er auch noch so abgelegen, wurde mittlerweile von der Interzone annektiert,
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