Todgeweiht im Münsterland - Westfalen-Krimi
Prolog
Ich, Karl Schulze Nüßing, geboren am 12.02.1870, Sohn des Alfons Schulze Nüßing und
seiner Ehefrau Klara, werde hier die Schuld der Familie Schulze Nüßing
niederschreiben, auf dass die Nachkommen der Familie sich ihrer bewusst sind
und auf ewig für die Vergebung der Sünden beten, bis zum jüngsten Tage, da ein
anderer Gericht halten wird. Bis dahin soll mein Schriftstück jeweils an den
Sohn weitergegeben werden, der bereit ist, eine schreckliche Last zu tragen, zu
beten und darüber zu schweigen.
Wir
schreiben das Jahr 1883, Erntezeit.
Annemarie
Hovermann, zarte Tochter der uns eng verbundenen Kaufmannsfamilie Horst
Hovermann, überrascht ihren Bruder Clemens Hovermann mit Anton Schulze Nüßing,
meinem Bruder, in einer Weise, die der gottesfürchtigen Maid die Schamesröte
ins Gesicht steigen lässt. Zwei Männer, die sich einander in derart unzüchtiger
und tierisch-triebhafter Weise nähern, das ist gotteslästerlich und wider die
naturgedachte Ordnung. Voll Angst um das Seelenheil ihres Bruders schreit
Annemarie auf und bittet die beiden Männer, diese gottlose Beziehung zu beenden
und vom nächsten Tage an Buße zu tun. Sie läuft aus der Scheune, wo sie die
beiden in solch erschreckender Umarmung vorgefunden hat. Der junge Anton rennt
ihr nach, voll Angst, dass Annemarie das Gesehene laut in der Gegend verkündet.
Er will mit ihr reden, sie aufhalten. Und Anton erreicht sie, doch plötzlich
liegt das unschuldige Mädchen blutend, leblos am Boden. Gestürzt, geschubst
oder eine unglückliche Verkettung von beidem?
Ihr
Bruder Clemens eilt hinzu. Seine Schwester liegt mit geschlossenen Augen da,
neben ihr ein handtellergroßer Stein, auf den das Mädchen gefallen sein mag.
Soll
Clemens den Beteuerungen des Geliebten glauben, es sei ein Unfall gewesen? Er
tut es. Doch Annemarie erwacht nicht mehr, und auf erklärende Worte warten die
Eltern und der Bruder vergeblich. Zwei Tage später ist das junge Mädchen tot.
Clemens
ist ein zarter Junge, Aggressivität ist ihm fremd, und dennoch läuft er nun,
von seelischem Schmerze blind, hinüber zum Hofe der Schulze Nüßing. Derweil ist
Anton unterwegs mit unserer Schwester Berta, einem sehr verlässlichen Mädchen
von knapp zwanzig Jahren. Sie sind auf dem Weg zu einem Krankenbesuch bei
Annemarie, nicht ahnend, welch schreckliche Folgen der Sturz hatte.
Beim
Anblick des jungen Mannes, der seine Schwester gesund neben sich weiß, wird
Clemens rasend, und statt eines Grußes stürzt er mit seinem Messer auf Anton
zu, um den vermeintlichen Mörder der eigenen Schwester zu richten. Berta
schreit auf, tritt vor, um den sonst so friedlichen Clemens zu beruhigen, und
rennt unglücklich in das Messer. Ihr Mieder färbt sich so schnell rot, wie sie
zu Boden fällt. Das Sterben dauert nur zwei Minuten. Und wieder ist ein
unschuldiges Mädchen tot. Clemens rennt fort, und Anton bricht neben seiner
Schwester zusammen.
Am
Abend sucht der eine Vater den anderen auf. So viele Jahre haben sie gemeinsam
Geschäfte gemacht, ihre Kinder großgezogen und die Jahreszeiten gelebt, wie sie
kamen. Nun hatte Zwietracht und Totschlag Einzug in ihrer beider Leben
gehalten. Noch lässt sich das Geschehene vor den anderen Familienmitgliedern
geheim halten. Die Alten entscheiden, dass es nur eine Möglichkeit gibt, den
Frieden zu sichern. Beide Söhne müssen in die Ferne und dürfen sich nicht mehr
begegnen. Und schon am nächsten Tag ziehen Clemens Hovermann und Anton Schulze
Nüßing auf Geheiß des jeweiligen Familienoberhauptes fort. Der eine Sohn geht
nach Süden, der andere nach Norden.
Doch
ein Vater spielt falsch. Mein Vater!
Alfons
Schulze Nüßing erschlägt den Clemens Hovermann noch am Tage seines Aufbruchs
und vergräbt die Leiche, auf dass sie nie wieder auftauchen sollte. Am Fuße der
großen Eiche endet das Exil für Clemens, für Anton aber dauert es knapp vier
Jahre. Dann bekommt er Nachricht vom Tode des alten Hovermann und kehrt auf den
elterlichen Hof zurück. Außer seinem Vater kennt niemand die wahren Umstände.
Ich
werde nicht anklagen noch richten. Nur beten. Ich, der Sohn eines Mörders.
Möge
dieses Schreiben niemals in die falschen Hände geraten und erneut Zwietracht
säen zwischen den Familien und ihren Kindern.
Karl
Schulze Nüßing, Dezember 1895 in Münster
EINS
Münster
in Westfalen, Gegenwart
Was macht man,
wenn man noch
Weitere Kostenlose Bücher