Extraleben
habe ich aus dem Netz.« »Na und?« »Fällt dir nichts auf? Die Sterne, Alter, die Sterne!« Tatsächlich, jetzt sehe ich es auch. Bei unserer Version von Raid over Moscow links funkeln über dem globalen Schlachtfeld einige Sterne; auf dem rechten Screenshot ist an der Stelle absolut nichts. Ich beginne zu verstehen, warum Nick so aufgeregt ist. »Deshalb stand STARS in dem Intro. Es ging gar nicht um Star Wars, sondern um die Grafik.« Zufrieden kneift Nick das rechte Auge zu. »Genau, Und jetzt kommt der Hammer: Ich habe den Speicherbereich isoliert und mal unter die Lupe genommen.« »Und?« »Na ja, die Sache war nicht ganz einfach.« Ein bisschen stolz ist Nick immer noch auf sein abgebrochenes Informatikstudium. »Ich habe lange rumprobiert, verschiedene Verschlüsselungsalgorithmen abgecheckt ...« »Was denn jetzt!« Doch so einfach lässt sich mein Kumpel nicht seine Story wegnehmen. »Hast du schon mal was von Steganografie gehört?« »Eine versteckte Nachricht in einem Bild«, antworte ich brav. »Richtig. In das Bild hat jemand zusätzliche Daten eingeschleust, getarnt als Grafik und obendrein verschlüsselt. Ich habe den ganzen Sonntag gebraucht, bis ich die Nachricht raushatte. Es ist eine Adresse: 1999, 155th Street, Fairfield, Iowa. Allerdings wohnt da niemand, das habe ich schon gecheckt.« Seltsam. Fest steht, dass unsere Version von Raid over Moscow anders ist als die anderen Kopien im Netz; aber warum hat jemand eine Adresse versteckt, die es gar nicht gibt? Ratlos starren wir auf den Bildschirm. »Und was ist, wenn wir den gleichen blöden Trick mit dem Plus Eins noch mal versuchen, also einfach die Hausnummer 2000 eingeben statt 1999?« Was Besseres fällt mir nicht ein, wenig originell, zugegeben. Nick zieht ratlos die Augenbrauen hoch und schiebt den Rechner zu mir rüber. »Jetzt bist du dran.« Ich lasse die neue Adresse durch ein paar Datenbanken laufen - und bekomme reichlich Treffer. Langsam wird die Sache interessant: Seite für Seite siebe ich den Datenmüll aus, bis nur noch ein Name auftaucht: Walter Day. Dieser Mann scheint derzeit unter der Hausnummer 2000 auf der 155. Straße in Fairfield/Iowa zu wohnen, wo immer das auch sein mag. Nach ein paar weiteren Seiten wird mir auch klar, warum ausgerechnet diese Adresse in unserem Spiel versteckt war: Day ist der Gott der Videospiele, oder zumindest war er das mal, Anfang der Achtzigerjahre. Ich scanne noch ein paar Hosts nach Infos und lese Nick alles vor. Ursprünglich betrieb der Mann in der Nähe der Stadt Fairfield eine Zockhalle namens Twin Galaxies; dann - auf dem Höhepunkt des Arcade-Booms - hatte er die geniale Idee, ein internationales Register für Highscores zu eröffnen, an das Spieler aus dem ganzen Land ihre Punktestände telefonisch melden konnten. Day stellte in seiner Arcade eine Tafel auf, wo er tagtäglich die Rekorde auf Maschinen wie Pac-Man, Centipede, Frogger oder Defender verzeichnete; später veranstaltete er sogar eine Weltmeisterschaft im nicht gerade urbanen Iowa. Anfang der Neunziger wurde es dann still um den bärtigen Mann, der stets im gestreiften Hemd eines Baseball-Schiedsrichters auftrat, obwohl er im Netz behauptet, weiterhin die »Champions der Heimkonsolen, PC- und Arcade-Spiele zu krönen«. Auf aktuellen Fotos sieht er verdächtig wie ein Obdachloser aus. Seine letzten fünfzehn Minuten Ruhm hatte Day im Sommer 1999, als er den Pac-Man-Rekord eines gewissen Billy Mitchell offiziell überwachte. Der schaffte es, in sechs Stunden das erste perfekte Punktefresser-Spiel hinzulegen: Mitchell fraß alle Energiepillen und Geister, kassierte jeden Obstbonus, den es zu kassieren gibt, und verlor dabei kein einziges Leben. Nach über 3Millionen Punkten und 256 abgegrasten Leveln stürzte das Spiel ab und ging in den sagenumwobenen Splitscreen-Modus, bei dem sich der Bildschirm in der Mitte aufteilt: Links erscheint ein normales Labyrinth, rechts flimmern nur noch bunte Kästchen und Buchstaben über den Monitor - das Ende in einem eigentlich endlosen Spiel. Mitchell, ein bärtiger Riese mit Vokuhila- Matte, der hauptberuflich besonders scharfe Steaksoßen herstellt, gilt seitdem als Legende. Hier beende ich meinen Vortrag. »Zusammen mit Walter Day bietet er 100000 Dollar Belohnung für jeden, der den 256.Level knackt« »Vielleicht kommt nach dem Splitscreen ja auch eine Nachricht von Datacorp«, mutmaßt Nick, der noch ein bisschen verwirrt guckt. Als waschechter Verschwörungstheoretiker zweifelt er
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