Extraleben
natürlich kein bisschen daran, dass zwischen unserem Zufallsfund aus dem Commodore-Archiv und dem greisen Arcade-Guru ein Zusammenhang bestehen muss: »Fest steht: Day ist unser Mann. Wenn einer weiß, wer oder was hinter der geheimen Botschaft in Raid over Moscow steckt, dann er.« »Sieht so aus.« Ich grinse rüber, Nick grinst zurück. Für Außenstehende muss das nach einer dahingesagten Bemerkung geklungen haben; doch es war nicht weniger als das Versprechen, dem geheimnisvollen Mann gemeinsam einen Besuch abzustatten.
LEVEL 04
Nick und ich sind schon seit der siebten Klasse befreundet, oder besser gesagt: seit dem zweiten Halbjahr der siebten Klasse. Am Anfang des Schuljahres wollte ich nämlich noch nichts mit ihm zu tun haben. Denn Nick, neu zugezogen aus dem Saarland, war in der c. Und in der c saßen nur Proleten und Idioten, das war völlig klar, genau wie völlig klar war, dass sich in der a nur die Zurückgebliebenen versammelt hatten. Lustig übrigens, wie das nachwirkt: Letztens, als wir über einen ehemaligen Stufenkollegen sprachen, der bei Pharmafirmen irgendwelche Software implementiert, meinte Nick völlig ungerührt »Kein Wunder, der war ja in der a.« - obwohl das gut und gerne schon 20 Jahre her ist und in der Oberstufe ja die alten Klassen zusammengeworfen werden. Aber egal: Das Stigma bleibt. Auf anderen Schulen verliefen die Gräben natürlich anders, aber auch da waren in der b meist die Coolsten. Überhaupt keine Diskussion. Wie gesagt: Nick war in der c, und damit hinter einem unüberwindlichen sozialen Graben, denn die Klassen schotteten sich systematisch gegeneinander ab: Die aus der c trugen Nike, wir in der b Adidas. Die in der c gingen während des Schulgottesdienstes am Freitagvormittag beim Plus das erste Pils kaufen, wir ins Café um die Ecke. Die aus der a waren, glaube ich, in der Kirche. In der c hörte man schon The Cure, Ska oder Joy Division, die b steckte noch mit Feargal Sharkey in den Top 40 fest, die in der a fanden Marillion gut; und so weiter und so fort. Kein Kontakt zu den Spastis aus der c oder a oder b zu haben, glich an unserer Schule einem in Stein gemeißelten Gesetz. Diese Grenze konnte nur eines überwinden: Hardware. Dinge, die mit Strom betrieben wurden, waren damals die Basis von vielen Freundschaften, und im Fall von Nick und mir überbrückten zwei 1541-Diskettenlaufwerke mit Speed-DOS die Gräben. Wer diese Zusatzplatine hatte, konnte Commodore-64-Floppys in atemberaubenden 20 Sekunden formatieren. Zeitgenossen ohne den Turbo mussten lähmende anderthalb Minuten warten. So begann unsere Freundschaft. Ich hatte von einem Nachbarn, der auf der Realschule war und über halb kriminelle Kontakte verfügte, gerade einen Schwung neue Spiele bekommen, den der Rest meiner Klasse natürlich auch in die Finger kriegen wollte; und nur Nick verfügte über die nötige Kopier-Power. Also machte man mit möglichst wenigen Worten auf dem Pausenhof ein Treffen aus: Ich: »Morgen, so vier rum?« Er: »Mm.« Die Datenfernübertragung konnte starten. Am nächsten Tag schnappte ich mir meinen Stapel Elephant Disks, die teuren Plastiklappen mit dem Werbeslogan: »Elephant never forgets«, und fuhr mit meinem Skateboard zu ihm rüber. Überflüssig zu erwähnen, dass ich sofort alles hasste: das Reihenhaus, seine achso freundliche Mutter, vor allem den Geruch der Familie - da bin ich echt empfindlich. Doch Nicks Medienbunker ließ einen all das vergessen. Er hatte schon damals das volle Programm auf Lager: Sony-Walkman, Technics-Plattenspieler, Harman-Kardon-Boxen, den Original- Monitor für den C64. Obendrein schien es ihm tatsächlich gelungen zu sein, seine Eltern komplett aus seinem Zimmer fernzuhalten. Mit dem Erfolg, dass es hier aussah wie auf der Müllkippe: unbezogene Matratzen, Fernseher in verschiedenen Zerfallsstadien, der Boden mit Platten und leeren Chipstüten übersät, also im Prinzip genau wie heute auch noch. Ordentlich war nur das »Alladin Sane«-Poster von Bowie an der Wand aufgehängt. Irgendwie cool, das musste ich zugeben. Seine phänomenales Gedächtnis hatte Nick damals übrigens noch komplett in den Dienst von Bowie gestellt: Er wusste schlichtweg alles über den Mann, kannte alle Texte auswendig und war bis oben hin voll mit Anekdoten aus der »Berliner Zeit« des Sängers, wie er sagte; gleich am Anfang hat er mir von einer Kneipe erzählt, in der sich die Punks dort immer am Jahrestag des Mauerbaus treffen, um feierlich auf einer
Weitere Kostenlose Bücher