Extraleben
schlägt ins Extreme um, sobald man den Führerschein in der Tasche hat. Bei uns erreichte sie ihren Höhepunkt in dem Moment, als wir die 250 Meter vom Oberstufen-Aufenthaltsraum bis zur Spielkiste mit dem Auto gefahren sind, und zwar jeder mit seinem eigenen Wagen. Eine Fahrgemeinschaft zu gründen war fast noch undenkbarer, als freiwillig zu wandern. Irgendwann, Mitte zwanzig, kam dann der Umschwung auf leisen Sohlen. Er begann mit dem Satz: »Da sind wir doch in zehn Minuten oben!« Fast beiläufig ließ Nick diese Worte fallen, als sei nichts dabei. Das war, als wir in Oregon gerade an einem Berg namens Black Butte vorbeifuhren, der sich leider nicht wie »Butt«, also Hintern, ausspricht, sondern ganz Pseudofranzösisch »Bjuht« und auch eher ein Hügel als ein Berg ist. Von der Straße aus sah er jedenfalls völlig läppisch aus. Wir schätzten, dass es bis zum Fuß des Hügels zweihundert Meter sind; dann kam ein kleines Wäldchen und eine kleine Passage mit Felsen, alles nicht besonders steil. Trotzdem kalkulierte ich lieber vorsichtig: »Zehn Minuten? Mindestens eine halbe Stunde!« »Quatsch«, erwiderte Nick bestimmt. In diesem Moment war die Sache klar: Es ging um die Ehre. Meine Schätzung gegen seine. Ohne zu zögern, machte ich eine Vollbremsung, wir stiegen aus und marschierten los. Einfach so, ohne Wasser oder Essen, mit unseren ausgelatschten Chucks. Es würde ja nur zehn oder eben dreißig Minuten dauern. Nach einer halben Stunde ging es das erste Mal leicht bergauf; zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine derart winzige Entfernung zurückgelegt, dass man das Nummernschild unseres Autos in der Ferne noch erkennen konnte. Wir taten kollektiv so, als hätten wir nichts bemerkt, und begannen mit dem Aufstieg - und zwar schnurstracks geradeaus, einfach den Berg hoch, Felsen über Felsen, ohne regelmäßig zu atmen oder so was. »Serpentinen sind was für Verlierer«, meinte Nick, und da hier ein Kumpel-Wettkampf im Gange war, mussten wir uns wohl oder übel dran halten. Als wir nach zwei Stunden den Gipfel erreichten, hatten wir das Gefühl, jede Sekunde Blut husten zu müssen. Wir knieten auf dem Boden und röchelten in unseren klatschnassen T-Shirts zehn Minuten vor uns hin, bevor wir wieder sprechen konnten. »Guck mal Alter«, sagte Nick, und zog ein kleines Einweckglas unter einem Steinhaufen hervor, der den Gipfel markierte. Darin lagen ein Stift, eine Packung Kondome sowie ein Notizblock, in dem die Gipfelstürmer vor uns ihre Gedanken niedergelegt hatten. Nick blätterte das Büchlein durch, bis er den letzten Eintrag fand. In einer krakeligen Kinderschrift stand da nur: „a nice 30 minute climb. tom«
LEVEL 34
Vor manche Entscheidungen im Leben sollte man nicht gestellt werden, zum Beispiel vor diese: wandern - oder mit Menschen an einem Touristeninformationsschalter sprechen. Doch genau an diesem Scheideweg stand ich heute Morgen nach dem Frühstück. Sollte ich die ganzen langen zwanzig Kilometer bis nach Black Ridge wirklich zu Fuß gehen? Da meine Wanderbegeisterung noch nicht wieder den rechten Berg der U-Kurve erreicht hatte, entschloss ich mich dagegen. Das allerdings würde bedeuten, mir eine Fahrgelegenheit zu suchen, und dafür würde ich mit jemandem sprechen müssen. Schweren Herzens trottete ich zum Infoschalter. Die Pflicht- Kommunikation lief erfreulich knapp ab: Die Dame am Auskunftsschalter, der natürlich auch im Flughafengebäude untergebracht ist, erklärte mir, dass es nur Gruppenausflüge zum Rand des Eises gäbe. Ich beschloss, in diesem Fall doch lieber zu wandern. Gott sei Dank fand sich dann doch noch ein Beförderungsmittel ohne eingebauten Redezwang: Als ich noch mal kurz auf mein Hotelzimmer ging, um mich umzuziehen, lag auf dem Schreibtisch die Visitenkarte eines Herrn namens Âke Andersson, der seine Taxidienste anbot. Ich wählte sofort seine vierstellige Telefonnummer und war überrascht, an diesem Morgen der erste Kunde zu sein. Herr Andersson versprach am Telefon, mich für umgerechnet 30 Dollar bis auf ungefähr zehn Kilometer an mein Ziel heranzufahren. Damit wäre die Wanderung auf einen Spaziergang verkürzt. Jetzt, gerade mal zehn Minuten später, steht Herr Andersson schon vor mir auf dem Hotelparkplatz, neben ihm ein dunkelgrüner Toyota Landcruiser, an den so ziemlich alles rangeklatscht wurde, was der Tuning-Markt hergibt: Dachgepäckträger mit zwei zusätzlichen Ersatzreifen drauf, Prallschutz gegen Kühe vorne, elektrische Winde,
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