Facetten der Lust
ansteckend und noch immer so betörend wie vor …
„Wie lange ist das her?“, fragte Annabelle entgeistert.
Ryan lachte. „Über zehn Jahre. Mann, wie die Zeit vergeht.“ Er sah sie an und in seinen Augen blitzte etwas auf, das Annabelle nicht benennen konnte. „Toll siehst du aus.“
Annabelle fühlte Röte in ihre Wangen steigen. Diesen Blick hätte sie sich vor zehn Jahren von ihm gewünscht. Doch damals hatte er nur Augen für Claries, genau wie alle anderen Jungs ihrer Klasse. Der alte Schmerz bohrte sich in ihren Magen. Mein Gott, wie hatte sie ihn angehimmelt! Ryan war ihre erste große Liebe, und er hatte nicht die leiseste Ahnung davon. Ihn jetzt zu sehen, sein Lächeln auf sich zu spüren, war fast zu viel für sie. Sein skeptischer Blick riss sie aus ihren Erinnerungen. Verlegen bemerkte sie, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte.
Anscheinend hatte sich in den letzten zehn Jahren nichts geändert. Noch immer war sie nicht in der Lage, ein Wort rauszubringen, wenn er so nah bei ihr war.
„Du siehst auch gut aus“, brachte sie stammelnd über die Lippen. Meine Güte! Was redete sie denn da? Natürlich sah er gut aus, genau wie früher. Das dunkelbraune Haar war etwas länger als damals, immer noch leicht gewellt und glänzend im Sonnenlicht. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Schon als Teenager hätte sie gerne dieses Haar berührt.
Sein makelloses Gesicht wurde durch einen Dreitagebart noch mehr betont. Sein Blick war durchdringender als damals, was es ihr nicht leichter machte, ihn anzusehen. Die obersten zwei Knöpfe seines schwarzen Hemdes standen offen. Er sah nicht nur gut aus, sondern atemberaubend. Annabelles Herzschlag wollte sich nicht beruhigen, und sein dröhnendes Lachen verstärkte ihre Beklemmung.
„Sag bloß, du bist immer noch so schüchtern wie früher?“
Nein, das war sie nicht. Nach der Schulzeit war sie ein Jahr lang durch Europa und Australien gereist und hatte ihre Schüchternheit wie einen alten, abgewetzten Mantel abgelegt. Betont langsam schloss sie ihren Laptop und leerte ihr Glas.
„Nein, Ryan, Schüchternheit zählt nicht mehr zu meinem Repertoire.“
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
„Wie geht es dir? Ich dachte, du bist in Afrika?“
Überrascht hob er eine Augenbraue. „Ich bin für drei Wochen bei meiner Familie. Du scheinst genauestens über mich Bescheid zu wissen.“ In seiner Stimme lagen Überraschung und Belustigung.
Annabelle konnte ihren Herzschlag noch immer nicht beruhigen und war dem Kellner dankbar, als er an ihren Tisch kam und die Bestellung aufnahm. Hoffentlich unbemerkt trocknete sie ihre schweißnassen Hände an ihrem Rock. Sie versuchte, unverbindlich zu lächeln.
„Ich habe noch immer Kontakt zu Susan. Sie erzählte mir vor ein paar Jahren, dass du in der Entwicklungshilfe arbeitest. Du hast es geschafft. Das war immer dein Traum!“
Ryan lehnte sich entspannt zurück. „Ja, es war mein Traum.“ Eine leise Melancholie schwang in seiner Stimme mit und gab ihm etwas Verletzliches.
„Aber?“, bohrte Annabelle nach.
„Es ist anstrengend. Nicht der Job, sondern das Elend und die Not, mit der man leben muss. Wenn du einmal in die hoffnungslosen Augen eines Kindes geschaut hast, vergisst du das nie.“ Ryan schwieg und Annabelles Herz zog sich zusammen. Von dem unbefangenen Jungen, der keine Gelegenheit ausließ, sich zu profilieren und anzugeben, war er heute meilenweit entfernt. Die Ernsthaftigkeit stand ihm gut und machte ihn noch attraktiver.
Der Kellner kam und stellte Annabelle den dritten Latte Caramel mit einem Lächeln vor die Nase. Ryan ließ Zucker in seinen Espresso rieseln und schien weit weg zu sein. Wie um eine ungeliebte Erinnerung abzuschütteln, räusperte er sich und lächelte Annabelle an. „Und was machst du so? Es sah aus, als würdest du arbeiten.“ Er deutete mit dem Kopf auf ihren Laptop.
„Nur eine kleine Präsentation. Ich mache Firmenanalysen.“
Ryan lachte. „Du?“
Auch Annabelle konnte ein Schmunzeln nicht zurückhalten. „Warum bist du so skeptisch? Traust du mir das etwa nicht zu?“
„Ich traue dir so einiges zu.“ Für ein paar Sekunden hing dieser Satz zweideutig zwischen ihnen. „Aber ich schätze, dass man in diesem Beruf sehr akribisch sein muss.“
„Das habe ich im Laufe der Zeit gelernt, und so einiges mehr“, sagte Annabelle milde lächelnd und rührte den Schaum ihres Latte unter. Überrascht stellte sie fest, dass auch in ihren Worten Zweideutigkeit
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