Fahrt ohne Ende
vergeßlichen Lateinlehrer.
»Was habt ihr denn vor?« ruft Wolf, der ein paar Meter entfernt auf der Schulhofmauer sitzt und seine Beine herabbaumeln läßt.
»Komm doch her«, rufen die Klassenkameraden, »dann sagen wir‘s dir.«
Und Wolf wird eingeweiht: man will Kauz in der nächsten Stunde einen Zettel mit seinem Spitznamen auf dem Anzug befestigen.
»Aber du traust dich ja doch nicht, da mitzumachen«, stichelt Kurti, der Wolf nicht so recht leiden mag, weil der so was »Besonderes« an sich hat. Wolf tollt zwar meist mit den anderen wild herum, aber er ist mitunter auch still; die Lehrer fragen manchmal: »Wolf, träumst du wieder?«
Aber dies will Wolf doch nicht auf sich sitzen lassen; die meinen wohl, er hätte Angst?
»Was ist denn dabei, Leute, gebt das Ding her, ich will‘s dem Kauz schon anhängen«, sagt Wolf.
Und wirklich, als Kauz in der nächsten Stunde an Wolfs Bank vorbeikommt, befestigt der ihm mit einer schnellen Handbewegung den Zettel auf dem Rücken, und die Jungen der Quinta A stimmen ob dieses Sieges über ein verhaßtes »Bleichgesicht« ein unhörbares Siegesgeheul an.
Als Kauz nach der Stunde den Schulhof betritt, wundert er sich über seine Popularität, bis ihn ein Kollege vom »Stein des Anstoßes« befreit. Der Direktor erfährt sofort von der Geschichte, schon in der nächsten Stunde geht er durch die Klassen, die als Übeltäter in Frage ‘kommen, er verheißt dem Täter und der ganzen Klasse strengste Bestrafung und gibt dem Übeltäter Bedenkzeit bis zum nächsten Mittag, sich zu melden.
Nach Schulschluß gibt Kurti an die Quinta A die Parole aus: daß bloß jeder seine Klappe hält, wir geben nichts zu!
Wolf geht an diesem Mittag wie des öfteren zusammen mit Jürgen nach Haus, einem Jungen aus der Sekunda, der in der gleichen Ecke wie Wolf wohnt. Heute mittag geht die Unterhaltung natürlich um das Ereignis des Tages: die Sache mit Kauz.
»Ich weiß ja nicht, wer das gemacht hat, aber schön war das nicht. Der Mann hat‘s sowieso nicht leicht, er ist auch nicht immer so gewesen, erst seitdem er durch ein Unglück seinen einzigen Jungen verloren hat...«, meint Jürgen. Und er wundert sich, daß Wolf nichts darauf antwortet, er guckt ihn von der Seite her an und sieht, wie Wolf rot wird.
Als die beiden auseinandergehen, sagt Wolf nur »Wiedersehen, Jürgen«. Und Jürgen sieht, wie Wolf ziemlich langsam weitergeht, die Hände in den Taschen seiner Lederhose, das helle Haar vom Wind zerzaust, die Stirn ein wenig nachdenklich.
Am anderen Morgen kommt Wolf in der letzten Minute in die Klasse. Er sagt zu den Klassenkameraden: »Hört mal, ich werd‘ mich bei Kauz entschuldigen«, und schon geht die Tür auf. Kauz kommt herein.
Wolf geht auf ihn zu, streicht sich das Haar mit einer Handbewegung aus der erhitzten Stirn und sagt leise, aber fest: »Herr Studienrat, ich bitte Sie um Verzeihung wegen dieser Sache gestern. Ich war es. Es tut mir leid.«
Kauz ist etwas überrascht, er gibt Wolf die Hand und sagt: »Ist in Ordnung.«
Als Wolf sich wieder hinsetzt, sind viele seiner Klassenkameraden offenbar nicht einverstanden mit ihm. »Du bist schön doof«, tuschelt Kurti. Aber Wolf ist mit sich selbst einverstanden, und auch Jürgen ist mit ihm einverstanden, als Wolf ihm mittags die ganze Geschichte erzählt.
Jürgen sagt dann noch: »übrigens..., ach was, laß, ein andermal.«
Als Wolf, das heißt: der Quintaner Wolfgang Gecken, zu Haus angelangt ist, fliegt die Büchertasche nicht so ungestüm wie sonst in die Ecke seiner Bude. Im Gegenteil: sie wird sehr sorgfältig an die Seite des Bücherbretts gestellt. Auch beim Mittagessen mit Mutter, Vater und den beiden Schwestern zusammen ist Wolf sehr ruhig, ein bißchen zu ruhig jedenfalls für die ein Jahr ältere Schwester, die Wolf — und nur er — Gisa nennen darf, den anderen Familienmitgliedern gegenüber legt sie Wert auf »Gisela«.
»Der Herr Bruder hat bestimmt eine Fünf geschrieben, — was ist es denn für ein Fach, mal wieder Mathe, Wolf?« neckt Gisa.
»Ja wirklich, Wolf, was ist los?« stimmt der Vater zu.
»Gar nichts, wirklich nicht«, sagt Wolf, »nur — es ist sehr schönes Wetter draußen.«
»Wie geistreich«, meint Gisa, »das wäre uns sonst gar nicht aufgefallen, aber gut, daß du‘s sagst, ich hätte es beinah vergessen: ich darf doch heute nachmittag mein neues Kleid anziehen, wenn ich zu Ulla gehe, nicht, Mutti?«
Und damit ist Wolf für den Rest des Mittags von der Anteilnahme
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