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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Lebensjahr stattgefunden hatten. Die Bilder waren wieder da, und nicht nur Bilder, auch die Gefühle, die sie damals gehabt hatte, kehrten zurück. Die Welt, die sie in den Monaten nach ihrer Geburt erlebt hatte, war nicht wesentlich anders gewesen als jene, die sie nun sah. Worte hatten keine Bedeutung gehabt, Dinge hatten in keinem klaren Zusammenhang zueinander gestanden. Vater und Mutter waren übergroße, alles beherrschende Gestalten gewesen, Götter und Dämonen, Schöpfer und Zerstörer der Welt, Herren über Leben und Tod, über Glück und Unglück. Die Bilder aus dieser Zeit waren alle irgendwo in ihrem Hirn gespeichert gewesen, die ganze Zeit über – unter Verschluss, unzugänglich für den Verstand, den sie im Laufe ihres Erwachsenwerdens entwickelt hatte. Dieser erwachsene Verstand war nichts als ein nüchternes Werkzeug, um sich im Leben zurechtzufinden. Er war zerbrechlich und schwach. Eine einzige Konfrontation mit diesen machtvollen Bildern aus der eigenen Vergangenheit hätte ausgereicht, um ihn für immer zu zertrümmern. Jetzt, wo sie den Verstand nicht mehr hatte, konnte sie die Bilder gefahrlos betrachten, diese wilde Show aus ungebremsten Emotionen.
    Erwachsene versuchten die Kinder mit Jugendschutzgesetzen vor verstörenden Bildern zu bewahren. Ein Mechanismus in der Erinnerung der Menschen schützte dagegen die Erwachsenen von den Bildern ihrer Kindheit, die verstörender und gewaltiger waren als alles, was ein Mensch später jemals erleben konnte.
    Isabels Erinnerungen trieben weiter auf eine lebendige Dunkelheit zu, auf einen Kosmos, der weich und eng war, nass und warm, ein Universum aus einem Ich und einer Membran darum. Sie wusste nicht, dass sie sich im Mutterleib befand, so wenig, wie sie es damals gewusst hatte. Sie erreichte einen Punkt, wo sie mit allem, was existierte, eins wurde, und jenseits dieses Punktes gab es nichts mehr.
    Also erwachte sie aus ihren Erinnerungen.
    In eine andere Welt hinein.

    NUN IST ES EIN BISSCHEN METAPHYSISCH GEWORDEN, NICHT WAHR? KÖNNEN SIE ÜBERHAUPT NOCH FOLGEN, ODER KOMMT IHNEN DER INHALT EIN WENIG VOR, ALS WÄRE ER FÜR EIN BUCH GESCHRIEBEN WORDEN, FÜR EIN RICHTIGES BUCH?
    SEHEN WIR, WAS WEITER PASSIERT …

7
    Die Katze war auch jetzt wieder da. Ein Feuerball, in eine stolze Form gegossen. Eine Königin, ein edles, reines Geschöpf. Es war ein Segen, dass es in dieser Realität keine Sprache mehr gab, denn für ein solches Wesen hätte man ohnehin keine Worte finden können.
    In ihrer Umgebung wuchsen fremde, bizarre Gegenstände zu Landschaften empor, drohend und riesig. Die Farben stießen schmerzhaft aneinander, die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen erweckten Übelkeit im Betrachter. Der Himmel war ein viel zu niedriges, helles Ding, aus dem ein leuchtendes Etwas in einer Schale hervorstieß. Keine echte Sonne, kein echter Himmel – eine Karikatur voll abstoßender Hässlichkeit.
    Isabel hatte den Eindruck, dass jeder noch so winzige Bestandteil dieser Welt die Natur zu imitieren versuchte, ohne sie zu erreichen. Tote Pflanzen steckten schief in halbtransparenten Behältern, die sie zu quälen schienen. Natürlich wusste Isabel nicht, was Pflanzen waren, aber sie spürte in diesen schlanken anmutigen Gewächsen etwas Wertvolles und Echtes, während diese Welt sonst voller falscher Gerätschaften war.
    Auf der einen Seite brüllte ein ekelhafter Kasten mit schriller Stimme, rief ohne Seele nach Wesen, die es nicht gab, schüttete ein ständig wechselndes Chaos von Licht und Mustern in den Raum. Er stand hoch oben, wie etwas Wichtiges auf einem Thron, und wenn man lange genug in seine Richtung blickte, fühlte man sich sogar davon angezogen.
    Isabel riss ihren Kopf herum, sah zur anderen Seite.
    Kaum sichtbar zwischen riesigen aufrechten Kästen hatte sich eine Gottheit versteckt.
    Sie war ganz anders als jene, die eben noch bei ihr geweilt hatten. Diese Gottheit strahlte Ruhe und endlose Weisheit aus. Ihr Körper schien sich kaum zu bewegen, ihr Äußeres war von einem vielfältigen Graubraun – das galt sowohl für den Schmuck, mit dem sie ihren heiligen Körper bedeckte, als auch für ihre Haut selbst. Nur manchmal nickte ihr Kopf wissend und bedeutungsvoll. Isabel konnte sich kaum von ihrem Anblick lösen. Die Gottheit schien die Herrin dieser Welt zu sein, und doch auch wieder nicht, denn ihrerseits war sie eine Gefangene, gebannt von den unverständlichen Botschaften, die der schreiende, Farben speiende Kasten auf der anderen

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