Falkengrund Nr. 29
die sie sich selbst beigebracht hatte. Auch jetzt, wo es fast keine Kleidung mehr an ihrem Leib gab, machte sie weiter. Wieder und wieder drangen ihre zu Krallen gewachsenen Fingernägel in ihr Fleisch, und den beiden Studentinnen drehte sich der Magen um, als sie Zeugen wurden, wie Isabel sich einen Hautfetzen vom Arm riss!
„Wir müssen etwas unternehmen“, drängte Dorothea. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen. Die andere Hand streckte sie nach Isabel aus.
„Fass sie nicht an!“, rief Jaqueline. „Erst müssen wir herausfinden, was mit ihr vorgeht. Warum tut sie sich das an?“
„Sie bringt sich um!“
„Das glaube ich nicht. Zumindest nicht absichtlich.“
„Die Katze hat es ihr befohlen. Sie ist unter ihrem Einfluss.“
Die Katze – wo war sie? Jaqueline lief in den Flur hinaus, wo sie sie zuletzt gesehen hatte. Jetzt war das Tier verschwunden. Sie knirschte mit den Zähnen, bis es schmerzte. Himmel, warum hatte sie Isabel auch hierher führen müssen? Hätte sie nicht ahnen müssen, dass so etwas geschah?
Die Antwort war, dass sie freilich nicht mit einer solchen Entwicklung hatte rechnen können. Sie hatte gehofft, dass ein Dialog zwischen den beiden zustande kam. Vielleicht geschah das auch in diesen Momenten. Vielleicht redeten sie tatsächlich miteinander, auf eine Art und Weise, die sie nicht verstand. Aber wozu das Blutvergießen? Welchen Sinn hatte es, dass Isabel sich so zurichtete?
„Moment“, sagte sie plötzlich im Selbstgespräch. „Sie versucht nicht, sich zu töten. Das würde sie anders angehen. Sie reißt sich etwas vom Leib, zunächst die Kleider, dann ihre Haut. Sie versucht sich zu befreien. Sie will … sie will …“
„… ihre menschliche Hülle ablegen“, ergänzte Dorothea, die mit fahlweißem Gesicht in den Flur taumelte.
Jaqueline nickte hektisch. „Sie träumt. Träumt sich in eine andere Realität hinein. Sie muss denken, sie sei eine Katze. Katzen können es nicht ertragen, wenn man sie in Kleidung steckt oder ihnen einen Verband anlegt. Sie versuchen sich zu befreien.“
„Wir müssen sie aufwecken. Aber wie? Was sie sich vom Leib reißt, ist ihr eigenes Fleisch, ihre eigene Haut!“
Als sie in das ehemalige Wohnzimmer zurückkehrten, erwartete sie eine neue Überraschung. Nicht mehr nur der Schreibtisch war es, der quer durch Isabels Körper hindurchging – nun versank sie auch im Boden. Sie kroch auf allen Vieren und war bis über die Handknöchel in Teppich und Dielenbretter eingetaucht. Ihre Beine lagen noch auf dem Boden auf, während ihre Arme immer weiter verschwanden.
Es klingt nach nicht viel, wenn es geschrieben steht, aber eine solche Szene mit ansehen zu müssen, ist etwas anderes. Dorothea fiel auf die Knie und übergab sich. Auch Jaqueline schwankte, hielt sich mit zittrigen Fingern am Türrahmen fest.
Sie beobachtete, wie Isabel, mit dem Oberkörper voraus, in den Boden eintauchte.
AN DIESER STELLE MÜSSEN WIR UNS INS GEDÄCHTNIS RUFEN, DASS UNSERE PROTAGONISTEN SICH IM DRITTEN STOCK AUFHALTEN. WOHIN VERSCHWINDET ALSO ISABEL – IN DIE WOHNUNG UNTER IHR? ODER IN EINE GÄNZLICH FREMDE DIMENSION?
GEHEN WIR NOCH EINMAL EINIGE MINUTEN ZURÜCK IN DIE VERGANGENHEIT …
9
Während sie sich aus ihrer lästigen Umhüllung befreite, beobachtete sie weiter ihre Welt.
Da war nicht mehr nur die Göttin. Ein weiteres gewaltiges Wesen ihrer Art hatte die Bühne betreten. Groß und dunkel. So breit, dass Welten davon verdeckt werden konnten. Es brachte einen staubigen Geruch mit sich, als wäre es ein Tor in eine Dimension voller Vergänglichkeit. Zwischen den beiden Göttern gingen Laute hin und her. Einige davon speicherte sie in ihren Gedanken ab, ohne sie verstehen zu können. Es war schwierig, die Laute überhaupt wahrzunehmen, da der schreiende Kasten unablässig dazwischenquakte.
„Duverwöhnstsie“, sagte der riesige staubige Gott. Er sagte es so oft, dass es ihr leicht fiel, sich die Lautfolge zu merken. Immer, wenn er es sagte, griff seine Pranke nach dem Behältnis, aus dem die flammende Katze etwas Essbares erhalten hatte. Das Behältnis klebte an der Pranke fest, und er verschwand damit durch eine Öffnung in eine andere Halle der Welt. Die flammende Katze folgte ihm, und was die Katze sah, sah auch Isabel. Sie war in ihren Erinnerungen, konnte sich darin bewegen und darin leben.
Der Gott verstaute das Etwas mit der Nahrung darin an unterschiedlichen Orten. Es dauerte nie lange, da war er
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