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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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in einem Ohrensessel. Am Stoff des Sessels ebenso wie an den Kleidern der Person klebte Schmutz unterschiedlicher Färbung. Einiges davon war rotbraun wie altes Blut, anderes gelblich wie Galle oder schmutzig weiß wie Eiter. Über den Körper des Mannes krochen Käfer, allerdings vereinzelt, nicht als geschlossene Schicht, wie sie das vor zwei Jahren im Garten bei Charmaine Morice gesehen hatte.
    Der Mann war umrundet von technischen Apparaten. Als erstes erkannte sie einen großen Fotoapparat und eine Filmkamera (so etwas hatte sie bislang lediglich in Bildern, niemals in natura gesehen). Rechts neben dem Sessel stand ein undefinierbares Gerät, das einen schmalen Papierstreifen voller Ausstanzungen ausspuckte. Lochkarten! Der Streifen bewegte sich, wurde länger. Auf der anderen Seite gab es einen merkwürdigen Holzkasten mit einer Kurbel daran und einer eisernen Walze, aus der ein Messingtrichter ragte. Das Gerät erinnerte an ein Grammophon und trug die Aufschrift „Edison“. Davor stand ein Telefon, dessen Hörer abgenommen und in der Nähe des Trichters aufgehängt war.
    Zunächst hatte sie den Mann nicht erkannt, denn die Apparaturen verdeckten ihn, er war abgemagert und sein Gesicht vom Schreien entstellt. Er musste wohl bemerkt haben, dass sie ihn betrachtete – vielleicht der oft zitierte siebte Sinn – und schloss jetzt den Mund, wimmerte nur noch dumpf. Seine Blicke suchten, fanden die Lücke in der Tür, darin ihr Auge. Als es still im Raum wurde, hörte die Frau die dünne Stimme wieder. Sie kam nicht aus seinem Mund, sondern aus dem Messingtrichter. Die Walze drehte sich dabei, ohne dass jemand die Kurbel betätigte.
    „Koooomm …“, flüsterte die Stimme.
    Edeltraud erkannte sie jetzt. Die Stimme aus dem Trichter und die der Schreie fügten sich in ihrem Geist zusammen. Beide gehörten zu Konrad Winkheim. Und Winkheim musste es sein, der vor ihr in diesem Sessel saß wie ein Sterbender. In den zwei Jahren seit ihrer Begegnung schien er um zwei Jahrzehnte gealtert zu sein, seine Wangen waren ein Geflecht aus Falten, seine Haut grau, seine Augen glanzlos. Mitleid und Grauen wechselten sich in ihr ab.
    Winkheim! Wenn, dann hatte sie erwartet, Samuel Rosenberg hier vorzufinden.
    „Khh …“ Ihre Stimme war ein hohles Nichts. Nach dem dritten Räuspern brachte sie seinen Namen hervor. „Konrad! Was geht hier vor?“
    Eine trockene, rissige Zunge versuchte, trockene, rissige Lippen zu befeuchten. „Den… denkst du … mich?“
    „Antworte mir!“ Für einen Moment schob sie zwei Finger in die Öffnung und unternahm den sinnlosen Versuch, das Loch zu vergrößern. Wäre sie doch etwas vorsichtiger mit dem Messer umgegangen! „Was ist das? Warum bist du hier eingesperrt – in dieser … Lage?“
    „Denkst du mich?“, erwiderte Winkheim. „Ja oder nein?“
    „Konrad, wer ist der Herr des Hauses? Wer?“
    Der Mann gab keine Antwort. Immer wieder sah sie sich gehetzt um. Sie rechnete damit, jeden Augenblick attackiert zu werden. Jetzt, wo sie gesehen hatte, was mit einem Menschen geschah, der dem Herrn des Hauses in die Falle ging, wollte sie lieber sterben als von ihm gefangen zu werden.
    „Ist es der Baron?“
    Es war ihr, als schüttle Winkheim den Kopf, aber eine klare Antwort enthielt er ihr vor. Erst jetzt fielen ihr die breiten Lederriemen auf, die seine Arme und Beine an den Sessel fixierten. Eine der Schlaufen lief sogar um seinen Hals. „Denkst … denkst …“
    „Himmel, ja, ja! Ich denke an dich! Wo ist Samuel? Wo ist Charmaine? Euer Diener Vinzenz? Wo sind eure Schüler?“ Es kam ihr so vor, als verändere sich etwas, als öffneten sich alle Türen gleichzeitig und gestatteten ihr einen Blick in die Zimmer. Als sie zurückwich und sich vergewisserte, waren die Türen so verschlossen wie zuvor. Was immer sich verändert hatte, es war in ihrem Kopf passiert.
    „Kein Diener. Und nur ein Schüler“, krächzte Konrad. „Nur … nur …“ Er sah sie nicht mehr an, hielt die Lider geschlossen. Strengte es ihn zu sehr an, die Augen zu öffnen, oder wollte er nichts sehen, flüchtete sich lieber in die gnädige Dunkelheit, die ihm half zu vergessen, in welcher Lage er steckte.
    „Was ist mit Samuel und Charmaine?“
    „Sie sind … hier …“
    „In ihren Zimmern?“
    „Nein … hier … bei mir.“ War er sagte, ergab keinen Sinn – selbst durch den winzigen Spalt konnte man zweifelsfrei erkennen, dass sich außer ihm niemand in dem Raum aufhielt. Der tote Winkel am Fuß

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