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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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die sich an sie erinnern konnten.
    Oder doch? Der Hieb war so heftig gewesen, dass sie nicht gespürt hatte, ob sie das Vieh erwischte oder nicht. Langsam drehte sie das Buch um. Erwartete, keine Spur von dem Ungeziefer zu sehen. Bestimmt war es im letzten Augenblick entwischt.
    Gelber Schnodder und Stückchen schwarzen Chinins klebten am Einband des Buches. Ein Bein fiel herab, dann ein zweites. Edeltraud kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, ob an dem Körper noch etwas zuckte. Nein. Dazu war sie zu gründlich gewesen.
    Erst jetzt begann ihr Herz stärker zu pochen. Hatte sie sich getäuscht, als sie in dem Käfer ein Exemplar der Art zu erkennen geglaubt hatte, das ihr auf Falkengrund begegnet war? Diese Tiere sahen sich ausgesprochen ähnlich. Die feuchten Überreste des Käferinneren sickerten tief in das Gewebe des beigefarbenen Einbands und würden ihn auf alle Zeit verunstalten. Wie konnte man auch so töricht sein, mit etwas so Wertvollem etwas so Unbedeutendes zu zerquetschen?
    Die Zimmertür öffnete sich quietschend.
    Edeltraud wirbelte herum und hob das Buch wie eine Waffe.
    Im Türrahmen stand der alte Knauser und riss überrascht den dünnen Arm hoch, um den Hieb abzuwehren. Auf der Stelle ließ Edeltraud das Buch sinken.
    Der alte Mann schnappte nach Luft. „Was … ist hier eigentlich vorgefallen?“, krächzte er, mehr verwirrt als zornig.
    „Es tut mir leid“, reagierte Edeltraud. „Der Tee – ich bringe ihn sofort.“
    Ihr Gegenüber blinzelte. „Was für ein Buch ist das? Doch nicht wieder eines dieser … Zauberbücher?“
    Der Begriff zwang ihr ein Schmunzeln auf die Lippen. Dass sie okkulte Schriften mochte, war ihm nicht lange verborgen geblieben, doch er war überaus naiv und arglos in solchen Dingen. Nie hatte er sie eine Hexe genannt oder gemeint, ihr gegenüber Verbote oder gute Ratschläge aussprechen zu müssen.
    „Es ist ganz harmlos“, versicherte sie. Als Beweis dafür (und auch, um die Käferreste auf dem Einband zu verbergen) schlug sie das Buch etwa in der Mitte auf und wollte ihm einen Blick gewähren. Es handelte sich um einen eng bedruckten, sehr anspruchsvollen Band über Astronomie und Astrologie, in dem es keine einzige Illustration gab. Bücher ohne Bilder wirkten immer ungefährlich. Als sie die Seiten öffnete, warf sie selbst einen Blick darauf, um zu sehen, an welcher Stelle sie den Text geöffnet hatte.
    Und schleuderte das Buch mit einem gellenden Schrei von sich! Es flog auf den alten Mann zu, streifte ihn an der Schulter und prallte gegen die Wand. Dort schien es einen winzigen Augenblick lang zu verharren, als wäre es magnetisch und die Wand aus Metall, ehe es ganz den Naturgesetzen gemäß herabfiel. Auf den Holzdielen des Fußbodens blieb es aufgeschlagen liegen. Der Alte stieß einen krähenden Schrei aus, stolperte einen Schritt rückwärts und hielt sich am Türrahmen fest.
    Edeltraud sog pfeifend die Luft ein, als drücke ihr jemand die Kehle zu. Der Grund, weshalb sie das Buch von sich geschleudert hatte, war folgender: Auf den geöffneten Seiten hatten sich die Buchstaben aufgebläht und bewegt. Sie waren im Begriff gewesen, einen neuen Text zu bilden.
    Vorsichtig näherte sie sich nun dem Buch, etwa wie man sich einem Sprengkörper oder einem gefährlichen Tier nähert. Sie hätte sich einen Gegenstand wie einen Besen oder einen Spaten gewünscht, um das Buch auf Distanz halten zu können. Falls es angriff. Die aufgedunsenen Buchstaben waren so groß, dass sie mit wenigen Wörtern die gesamte Doppelseite ausfüllten. Sie waberten, flimmerten und pulsierten. Sie waren lebendig, und vielleicht steckte ja das Leben des Käfers in ihnen.
    Buchstaben konnte man nicht einfach totschlagen wie Ungeziefer. So oft man Bücher auch zuklappte, den Lettern schadete man nicht.
    Die Botschaft an sich war weder kryptisch noch vage. Ihr Inhalt war klar verständlich und überdies in fehlerlosem und höflichem Deutsch verfasst.
    „Bitte rettet uns!“, stand dort in weichen, aufgeweichten Druckbuchstaben. „Der Herr von Schloss Falkengrund tötet uns alle. Samuel Rosenberg.“
    Edeltraud brach ohnmächtig zusammen.
    Durch eine Ritze zwischen Fenster und Rahmen drängten einige schwarze Käfer ins Zimmer.

2
    Edeltraud trank nur selten Alkohol. Dummerweise fiel es ihr schwer aufzuhören, wenn sie einmal damit anfing. Im Spirituosenschrank ihres Herrn hatte sie eine Flasche Schweizer Absinth entdeckt und kurzentschlossen auf ihr Zimmer entführt – ihm als

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