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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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den anderen abwichen. In einigen davon waren die Konturen einer mächtigen Männergestalt zu sehen. Sie schien aus braunem, feuchtem Rauch zu bestehen, ihre Haare waren zuckende schwarze Zungen aus zähem Dampf, und immer wieder zerfaserte der Kopf bis zum Hals in einem Rauchwirbel, nur um sich Sekunden später wieder zusammenzusetzen. Noch seltener war eine weitere Person zu sehen, eine schlanke Figur, ein Mann von geschlechtsloser, zarter Gestalt. Vor seinen Augen gleißten zwei runde Glasscheiben im Licht tausender Fotoblitze.
    Das Morsegerät unten in der Halle begann zu piepsen. Das Telefon klingelte.
    Edeltraud lief zu den Treppen. Von dort aus konnte sie die Halle überblicken. An der Tür gab es Geräusche. Jemand schien von außen am Schloss zu hantieren. Wenn jemand das Haus betrat, musste sie es von hier oben sehen. Doch sehen – das war inzwischen nicht mehr so einfach, wie es noch vor wenigen Minuten gewesen war. Fotos und Filme überlagerten die Wirklichkeit.
    „Er kommt“, sagte der schwarz-weiße Samuel im Film noch einmal. „Rette uns. Nein, rette dich!“
    Die Tür öffnete sich.
    Der Herr des Hauses betrat Schloss Falkengrund.

5
    Es war der Mann mit dem Nasenfahrrad. Sehr jung, blass und feminin, in einen hellen Anzug gekleidet. Die Gläser seiner runden Brille, die eben in den geisterhaften Projektionen im Widerschein der Blitze geleuchtet hatten – und es dort noch immer taten, Himmel, da war er schon wieder als riesige flimmernde Silhouette an der Wand –, waren in der Realität stumpf und trüb, die lupenartigen, dicken Gläser eines stark Weitsichtigen.
    Obwohl er sie mit Sicherheit hier oben stehen sah, drehte er sich in aller Ruhe um und zog die Tür hinter sich zu, schloss sie jedoch nicht ab. Als er gemessenen Schrittes durch die Halle ging, strahlte er die Gelassenheit eines Menschen aus, der seine Umwelt vollständig versklavt hat und deshalb nichts von ihr zu befürchten hat. Edeltraud schien für ihn nicht zu existieren, beinahe als wäre sie ein Gespenst, das er nicht wahrnehmen konnte, weil er beschlossen hatte, nicht an Gespenster zu glauben.
    Sie kannte diesen Jungen. Er hieß Erwin und war der erste Schüler auf Falkengrund gewesen. Edeltraud hätte der zweite werden können, wäre sie nicht von dem Anblick der mit Käfern überströmten Charmaine in die Flucht geschlagen worden. Erwin war ein stiller, verschlossener Junge, und während ihres kurzen Aufenthalts auf dem Schloss hatte sie nur wenige Sätze mit ihm gewechselt. Natürlich war ihr noch gegenwärtig, was Konrad gesagt hatte, als Erwin und Edeltraud sich zum ersten Mal gegenüberstanden: Erwin hat einen sehr pragmatischen Grund, sich mit dem Übersinnlichen zu beschäftigen. Er möchte eines Tages die Welt beherrschen.
    Er nahm das Telefon ab, sagte in die Sprechmuschel, ohne vorher zu lauschen: „Nein, ich denke dich nicht“, legte auf, ignorierte das Morsegerät und kam die Treppe nach oben, direkt auf Edeltraud zu. Als er vor ihr stand und nicht an ihr vorbeikonnte, sah er sie endlich an, kräuselte die Lippen zu einem amüsierten Lächeln und fragte: „Na, wie gefällt es dir … in meiner Welt?“
    Sie sah nicht ein, etwas auf diese impertinente Frage zu erwidern. Sie war es, die Antworten brauchte. „Was tust du hier? Was machst du mit diesen armen Menschen?“
    „Ach“, seufzte er theatralisch und lehnte sich gegen das Geländer, als nehme er gleichmütig hin, dass sie ihn so schnell nicht durchlassen würde, „ich tue nicht viel mit ihnen. Sie wollten etwas über Magie lernen, also sorge ich dafür, dass sie sich ganz darauf konzentrieren können.“
    „Sie sind gefangen, eingesperrt!“ Edeltraud hätte liebend gerne die wirren Projektionen abgeschaltet, die einen immer dichteren Reigen um sie bildeten, ständig in Bewegung waren, sie irritierten, die Wirklichkeit partiell überdeckten und dabei doch nichts als die alten Bilder wiederholten.
    „Eingesperrt?“ Er nahm seine Brille ab und putzte sie. „Nicht so sehr, wie es scheinen mag. Eigentlich waren sie noch nie so frei wie jetzt, findest du nicht? Obwohl sie in ihren Zimmern sitzen, von dicken Steinwänden und massiven Holztüren getrennt, reden sie miteinander, sehen sich an, schicken sich ihre Bilder, bewegte und unbewegte, senden sich Tonbotschaften, die sie mit Edisons Phonographen aufgezeichnet haben, telefonieren miteinander oder kommunizieren in der Maschinensprache der Lochstreifen. Ich habe ihnen die verschiedenen Mittel nach und

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