Falkengrund Nr. 31
zurückzubekommen, wenigstens partiell, doch die ersten Ergebnisse der anstrengenden, zwei Stunden dauernden Untersuchung waren enttäuschend ausgefallen. Obwohl das endgültige Resultat erst in einer Woche feststehen würde, machte sie sich keine Illusionen.
„Es ist weder eine Krankheit noch eine Verletzung“, erklärte sie Werner. „Ich habe meine Sehkraft verloren – meine Sehkraft per se . Dagegen ist kein Kraut gewachsen.“
Außer ein magisches , dachte der Rektor von Falkengrund, behielt den Gedanken jedoch für sich. Er fühlte sich verantwortlich für Margarete. Er war ein Mensch, der sehr schnell in eine Beschützerrolle verfiel, und nun begleitete er sogar die Dozentin zum Arzt wie ein Vater seine Tochter. Dankbar sah er zu Sanjay nach vorne. Die Studentin war eine hervorragende Fahrerin, steuerte den Wagen sehr gefühlvoll und sanft. Auch Melanie hatte sich bereiterklärt, sie zu chauffieren, doch wer den Fahrstil der Rothaarigen kannte, tendierte dazu, solche Angebote höflich aber bestimmt abzulehnen.
„Reden wir von etwas anderem“, meinte Margarete. „Es wird Zeit, dass wir eine Lösung für das Löwe-Gunkel-Problem finden, ehe es uns entgleitet.“
Was sie mit beinahe wissenschaftlichem Klang das Löwe-Gunkel-Problem nannte, war ein erschreckender Umstand: Dozentin und Xanthippe Traude Gunkel hatte buchstäblich die Seele von Michael Löwe im Leib. Diese wiederum wollte unbedingt ihren Körper zurückhaben. Der Student Michael, den sie alle nur für etwas verwirrt und zurückgeblieben gehalten hatten, war in Wirklichkeit kein Mensch. Er war ein Golem, erschaffen aus Lehm, seelenlos und desorientiert, ein Geschöpf ohne eigene Persönlichkeit, geschaffen von seiner eigenen Seele, die bei einer Séance in den Körper der Gunkel geschlüpft war. Traude hatte offenbar nur deshalb die freigewordene Dozentenstelle auf Falkengrund übernommen, um in Michaels Nähe zu sein. Sie wartete auf eine Chance, den Körper zu übernehmen, den sie geformt hatte und der ihr ihrer Meinung nach zustand. Aber hatte sie überhaupt ein Recht darauf? Und wenn ja, wie sollte so etwas überhaupt bewerkstelligt werden? Anscheinend kannte die Seele selbst keinen Weg, Traudes Körper zu verlassen und in den anderen einzudringen, sonst hätte sie es gewiss längst getan, anstatt als unzufriedene, streitsüchtige Alte durch die Schule zu pirschen.
„Wenn dir ein Weg einfällt, die Sache zu bereinigen, solltest du es tun“, fand Werner. „Solange Michaels Seele im falschen Körper gefangen ist, wird sie keine Ruhe geben. Sie hat die Atmosphäre auf Falkengrund lange genug mit ihrer Unzufriedenheit vergiftet. Sie wird erst wieder im Einklang mit sich selbst sein, wenn die ursprüngliche Einheit von Geist und Körper hergestellt ist.“
Margarete schien nicht überzeugt davon. „Dein Optimismus geht wieder einmal mit dir durch. Was ist, wenn sie sich nicht ändert? Mir kommt diese Seele mehr als nur frustriert vor. Hast du schon einmal überlegt, dass sie böse sein könnte, aufrichtig böse ?“
„Das schließe ich aus. Hast du vergessen, was an dem Tag passiert ist, als sie sich bewarb? Eine andere Bewerberin hätte um ein Haar Lorenz von Adlerbrunn aus seinem Zimmer befreit. Wir alle waren machtlos dagegen. Aber Traude hat eingegriffen und uns alle gerettet. Hätte sie das getan, wenn sie gefährlich wäre? Glaub mir, sie ist einfach nur ein enttäuschtes Wesen, das … geheilt werden muss.“
Margarete schüttelte den Kopf und erhöhte den Druck ihres Griffes. „Dein Argument zieht nicht. Sie hatte andere Gründe. Sie konnte nicht zulassen, dass Lorenz ausbrach. Er hätte alle getötet, auch sie selbst und Michael. Was sie getan hat, tat sie nicht aus Güte – sie tat es, um die beiden Körper zu retten, an denen ihr etwas liegt: den, in dem sie steckt, und den, in dem sie stecken möchte.“ Ihre Miene war zutiefst finster geworden.
Werner seufzte. „Du willst der verirrten Seele nicht helfen?“
Die Dozentin und Hexe antwortete schnell. Schon lange hatte Werner sie nicht mehr so leidenschaftlich diskutieren gehört. „Was passiert bei der ganzen Sache mit Michael, mit dem jetzigen Michael? Wird das, was jetzt in ihm ist, einfach ausgelöscht, überschrieben wie eine Datei?“
„Da ist nichts auszulöschen. Er hat keine Seele.“
„Das behauptet die Gunkel. Und diese Behauptung hat sie niemals bewiesen.“
„Aber er ist ein Golem.“
„Akzeptiert. Das ist er. Aber irgendetwas hat sich in ihm
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