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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Strom jetzt, JETZT fließen würde, dass er einen Schrei ausstieß.
    Die Tür öffnete sich quietschend. „Das Alleinsein ist dir nicht bekommen, wie ich höre.“ René Lewerz trat neben ihn. Das Licht war schummrig – eine einzige Birne, vierzig Watt vermutlich. Der Rollstuhl überschattete das Kabel. Die Füße überschatteten die Steckdose. Hoffentlich.
    „Weißt du“, sagte Lewerz, „eigentlich habe ich dir die Zeit gelassen, damit du dich in Ruhe vorbereiten kannst. Beten, meditieren, zur Ruhe kommen. Abschied nehmen von deinem Leben. Die Gerechtigkeit willkommen heißen. Aber du siehst nicht aus, als hättest du die Zeit genutzt.“ Der Mann lief um den Stuhl herum. Holger wagte nicht, den Kopf zu drehen, zu beobachten, ob Lewerz ihn musterte oder ob er ins Leere starrte, während er seine Reden schwang. „Du hast die Stunden, die ich dir gab, sinnlos vertrödelt. Wie du schon dein ganzes Leben verbummelt hast … mit Gutachten, die keinen Unterschied machen … mit Therapien, die niemanden heilen … und natürlich … mit dem Aufbauen läppischer kleiner Fallen, in die nicht einmal ein kleines Kind tappen würde …“
    Lewerz näherte seine Hände den Metallrohren unterhalb der Armstützen, schloss die Finger ein wenig. Als Haralds Körper sich verkrampfte, entfernte er seine Hände wieder, ohne den Stuhl berührt zu haben.
    „Lächerliche kleine Fallen“, wiederholte der Psychopath. Dann trat er ansatzlos und heftig gegen den Stuhl, dass dieser zwei Meter zurückrollte. Holger brüllte auf.
    „Und jetzt?“, fragte Lewerz scharf, bückte sich nach dem Kabel und hob es auf. „Was erwartest du von mir? Lob, Anerkennung, eine Eins in Sport für ein bisschen Zähnezusammenkneifen, eine Eins Plus in Mathematik für die Erkenntnis, dass ein Stecker mit zwei Stiften in eine Steckdose mit zwei Löchern passt?“ Er klatschte gelangweilten, spöttischen Applaus. „Wie intelligent kommst du dir vor? Was ist mit deinem Doktortitel? Wo ist dein Wissen über Geistesgestörte? Wenn ich verrückt bin, warum bist du dann auf solche Lachnummern angewiesen, anstatt mich einfach zu therapieren? Warum überzeugst du mich nicht davon, dass ich nicht René Lewerz bin, sondern … die Königin Viktoria oder … Renoir?“
    Holger ließ den Kopf nach hinten kippen, nahm alle Kraft aus seinem Körper. Seine Niederlage wurde ihm in vollem Umfang bewusst. Das Todesurteil, das sie bedeutete.
    „Darf ich dir verraten, warum dein kindischer Versuch nicht reüssieren konnte?“
    Holger krächzte etwas, schüttelte den Kopf.
    „Wie bitte? Ich verstehe dich nicht.“
    Der Arzt hustete. „Ge-… rechtigkeit …“, röchelte er. Das war es doch, was er hören wollte. Ja, und warum sollte er es nicht hören?
    Lewerz hob die Augenbrauen. Er kam auf Holger zu, beugte sich zu ihm hinab und flüsterte ihm ins Ohr: „Nicht schlecht.“ Er roch gut. Nach gebratenem Huhn. Die Henkersmahlzeit, frisch zubereitet. Komischerweise hatte Holger Appetit. Sein Magen knurrte.
    Durch ein winziges, mit Lumpen verhangenes Fenster fiel ein Hauch Tageslicht. Es musste schon Morgen sein. Er hatte einen halben Tag und eine ganze Nacht für seine kleine, wertlose Aktion verbraucht. Hatte er mit seinen letzten Stunden auf dieser Erde wirklich nichts Besseres anfangen können? Ein paar Erinnerungen noch einmal durchleben, ein paar Träume träumen, an das zurückdenken, worüber er sich einst gefreut, was er einst geliebt hatte?
    „Ich habe … mich noch nicht vom Leben … verabschiedet“, ächzte er.
    Lewerz erwiderte nichts. Er verließ den Raum und kehrte wenig später mit einem Tablett voller Köstlichkeiten zurück.

4
    Februar 2005
    Sanjay saß hinter dem Steuer und chauffierte ihre beiden Fahrgäste über von langen Schatten bedeckte Straßen. Der Schwarzwald präsentierte sich malerisch, doch es war eine lauernde Idylle, voller versteckter Orte und geheimer Pfade. Auf der Rückbank hatten Margarete Maus und Werner Hotten platzgenommen, und die hübsche Halbinderin erkannte im Rückspiegel, dass Werner Margaretes Hand hielt. Der Anblick berührte sie. Vor allem, weil Margarete keine Anstalten machte, den Tröstungsversuch abzuwehren. Die Dozentin gab sich gerne stark und unverletzlich, jetzt aber brauchte sie jeden Zuspruch, den sie bekommen konnte.
    Sie befanden sich auf der Rückfahrt von Ulm. Margarete hatte einen Termin bei einem Augenspezialisten hinter sich. Davon hatte sie sich neue Perspektiven erwartet, ihr Augenlicht wieder

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