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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nur der Gerechtigkeit Genüge getan werden. Ich hoffe aufrichtig, du hast nicht länger als ein paar Sekunden zu leiden, Minuten höchstens.“
    Holger sagte nichts. Allmählich dämmerte ihm, warum er in einem Rollstuhl saß. Dieser bestand fast vollständig aus Metall, und er war daran festgeschnallt wie ein Delinquent am elektrischen Stuhl. Notfalls ging es auch ohne Elektroden und nassen Schwamm, ohne großes Brimborium. Niemand würde Lewerz zur Verantwortung ziehen, wenn es eine hässliche Hinrichtung wurde, bei der das Opfer nicht sofort starb, bei der ihm Flammen aus dem Leib schlugen. Es brauchte also nur ein Kabel, das man irgendwo an das Metall des Stuhls anschloss, und das Provisorium war fertig. Es würde seinen Zweck erfüllen.
    Die Todesstrafe. Für Lewerz das Symbol für eine saubere, sterile Form von Gerechtigkeit. Zuerst die Giftspritze, nun der Stuhl. Es machte Sinn.
    „Wann?“, entschloss sich Holger zu der Frage. Seine Stimme klang ihm selbst fremd. „Heute noch?“
    „Morgen“, erwiderte Lewerz emotionslos. „Heute brauche ich Zeit zum Einkaufen.“
    „Einkaufen?“
    „Die Zutaten für deine Henkersmahlzeit. Ich bin ein recht passabler Koch. Du wirst keinen Grund zum Tadel haben.“
    Holger ließ den Kopf sinken. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Für einige Momente überwältigte ihn die Trauer so sehr, dass seine Schmerzen unwichtig wurden.

3
    Etwas später …
    Die Fakten ließen keinen Raum für Hoffnung.
    Stabile Lederfesseln, zerstörte Knie, ein unterirdischer, fensterloser Raum mit dicken Betonwänden, eine Tür, die Lewerz zu allem Überfluss noch abgesperrt hatte. Ein Mann wie er überließ nichts dem Zufall. Wahnsinnige waren nicht leichtsinnig oder optimistisch. Sie waren Perfektionisten. Sorglosigkeit bleib den Gesunden vorbehalten.
    Da nicht das geringste Geräusch von draußen hereindrang, musste man davon ausgehen, dass auch ein Schrei nicht hinausgelangen würde. Natürlich schrie Holger Ullmann trotzdem, eine volle Stunde lang, bis seine Stimme wie ein leises Rascheln geworden war.
    Das Kabel, durch das der Strom in den Rollstuhl fließen würde, lag in einer Ecke des Raumes, ein schwarzes Monstrum, dessen Dicke allein schon einen Eindruck von der Energie gab, die es passieren würde. Viele von Holgers Gedanken drehten sich um dieses Kabel. Konnte er mit dem Rollstuhl so oft darüber fahren, bis es durchgescheuert und unbrauchbar war? Kein Problem – vorausgesetzt, er bekam die Hände frei, und man gab ihm ein paar Jahre Zeit für dieses Kunststück …
    Der Rollstuhl verfügte über ein bescheidenes Maß an Isolierung. Kunststoffauflagen, leicht ramponiert, mit Schaumstoff gefüllt. Er saß auf diesem Material, und seine Arme lagen darauf. Würde ihm das irgendwie weiterhelfen? Nein! Seine Füße standen auf den Fußstützen, und die waren aus Metall. Momentan trug er noch Schuhe, mit dicken Kreppsohlen, aber er glaubte nicht, dass er diese bei der Hinrichtung anbehalten durfte.
    Welche Chance hatte er sonst noch?
    Ihm kam eine verrückte Idee: Wenn es ihm irgendwie gelang, den Stromanschluss im Geheimen vorzubereiten, Lewerz an den Stuhl zu locken, ihn dazu zu bewegen, das Metall zu berühren … Wenn er dann den Strom anschloss, dabei die Arme hochhob, so saß, dass sein Körper keinen Kontakt zu dem Metall hatte – gab es dann nicht eine winzige Aussicht, Lewerz mit dem Strom zu töten und selbst am Leben zu bleiben?
    Stundenlang beschäftigte ihn dieser Gedanke, auch wenn er ihm manchmal vorkam, als könne er in amerikanischen Spielfilmen funktionieren, aber nicht im realen Leben.
    Durch Vor- und Zurückwerfen seines Oberkörpers ruckelte er den Rollstuhl Zentimeter für Zentimeter durch den Raum, die meiste Zeit über in die falsche Richtung. Nach Ewigkeiten hatte er die Ecke erreicht, wo das Kabel lag. Der nächste Schritt wäre gewesen, das Kabel mit den Füßen anzuheben und zur Steckdose zu transportierten. Es hätte ein Kinderspiel sein können, wenn seine Beine zu irgendetwas nutze gewesen wären. Doch noch immer löste jede Bewegung infernalische Schmerzgewitter aus, die schwarze Punkte vor seine Augen zauberten und die Macht hatten, sein Bewusstsein auszulöschen, wenn er es übertrieb. Alles konnte er jetzt gebrauchen, nur keine Ohnmacht.
    Trotzdem – im Angesicht des Todes musste er diese Qualen ertragen. Langsam bereitete er sich darauf vor, trainierte, mit dem Schmerz umzugehen. Er hob seine Schenkel an, zunächst nur wenige

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