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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nicht der erste Laut, den sie von sich gab, seit sie eingestiegen war. Sanjays Fahrstil war ihr zu defensiv ausgefallen. Die alte Dame fand es indiskutabel, Fußgänger freiwillig über die Straße zu lassen oder langsame Autos zu überholen, ohne ihnen mit der Hupe zu verstehen zu geben, dass sie ein Verkehrshindernis darstellten.
    Beim Aussteigen stellten sie fest, dass sie nur zwei Regenschirme mitgenommen hatten. Einen davon teilte Traude großzügig mit Michael, dem einzigen Wesen auf dieser Erde, dessen Wohlergehen ihr am Herzen lag. Den anderen, kleineren nahm Sanjay und hielt ihn schützend über Margarete, während sie zuließ, dass sie selbst nass wurde. Fachinger hatte gar keinen Schirm im Wagen. Er versuchte, seinen massigen Körper unter der aktuellen Wirtschaftswoche unterzubringen. Außerdem hatte er vergessen, an welcher der Türen er sich mit dem Leiter der Asservatenstelle verabredet hatte. Das Gebäude war riesig, die meisten Türen verschlossen. So irrten sie fünf Minuten durch den Regen, und als sie schließlich eingelassen wurden, waren Sanjay und Fachinger bis auf die Haut durchnässt.
    Der Leiter war ein kleiner, quirliger Mann, der eine Polizeiuniform samt Kappe trug. Auf seiner Nase saß eine halbe Brille, über die er schelmisch hinweglinste wie ein Märchenerzähler. Um das Fass voll zu machen, hieß er auch noch Wim Scherz, und es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, eine Gruppe Außenstehender durch sein Archiv zu führen – im Gegenteil, er blühte förmlich auf und danke ihnen mehrfach, dass sie bei einem solchen Wetter den Weg zu ihm gefunden hatten.
    Sie passierten einen schmalen Korridor, wobei sie ständig geschäftig hin und her eilenden Leuten mit Armen voller Akten ausweichen mussten. Das einzige, was Sanjay in ihren nassen Kleidern aufheitern konnte, war das unablässige „Passen Sie doch auf!“, das Traude Gunkel jedem entgegenschleuderte, der es wagte, sie auch nur zu streifen.
    „Gleich wird es ruhiger“, versicherte Scherz, und tatsächlich: Ein knarrender, rüttelnder Aufzug brachte sie ein Stockwerk unter die Erde, und als sie ausgestiegen waren, hatten sie augenblicklich das Gefühl, sich in einer Gruft zu befinden.
    Die Kälte war enorm. Riesige Hallen erstreckten sich gleichförmig nach allen Seiten, voller Regale und Schränke, weitgehend unbeheizt. Fachinger nieste fünf Mal hintereinander, was bei dieser Akustik sehr eindrucksvoll klang, und Sanjay begann mit den Zähnen zu klappern.
    Es roch nach Staub. An den hohen Decken brannten Leuchtstoffröhren. Dadurch war es um ein Vielfaches heller als draußen. Die Gruppe der Besucher sah sich um, bis auf Margarete natürlich, die angespannt in ihre dicken Kleider gehüllt dastand und zu lauschen schien. Ihr spezieller Reiseführer breitete stolz die Arme aus. „Sechzigtausend Stücke“, strahlte er, „und wer hat sie alle katalogisiert? Der alte Wim Scherz, wer sonst!“
    „Das sind viele“, bemerkte Michael.
    Sanjay ahnte, dass sie es hier unten nicht lange aushalten würde. In ihren nassen Klamotten fühlte sie sich wie jemand, der in einem eisigen See voller Schlingpflanzen tauchte. Die Umgebung ließ es ihr auch nicht gerade warm ums Herz werden. Die Helligkeit war unangenehm, denn sie riss die schauerlichsten Gegenstände aus den Schatten der Regale.
    Die meisten Gegenstände waren in durchsichtigen Plastiktüten verpackt. Da gab es Waffen, nicht nur Schusswaffen – vor allem unendlich viele Arten von Messern, dazu jede Variante spitzer oder scharfer Werkzeuge. Ahlen, wie sie Schuhmacher benutzten, Stechbeitel und Stichsägen aus der Tischlerwerkstatt, Handbohrmaschinen, dazu Zangen und Scheren, Rasierklingen und Schnitzmesser.
    Auch fein säuberlich aufgereiht, eingetütet und mit beschrifteten Anhängern versehen, haftete ihnen etwas Unheimliches an. Etwas von den Verbrechen, die mit ihnen begangen worden waren. Ein, zwei Mal zuckte Sanjay zusammen, weil sie dumpfe Schreie zu hören glaubte, die Schreie der Opfer. Doch vermutlich waren es die Gummisohlen von Margaretes Winterstiefeln, die auf dem glatten Fußboden quietschten.
    Sie kamen durch eine Abteilung, in der es nur Haken gab, Fleischerhaken hauptsächlich, aber auch solche, die man bei der Obsternte einsetzte. Vereinzelt fanden sich so obskure Gegenstände wie Tortenheber und Pfeifenputzer.
    Zunächst hatte dieses unterirdische Reich einen übersichtlichen Eindruck gemacht. Je weiter sie darin vordrangen, um so dschungelhafter wurde es.

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