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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nahm die Hände von den Ohren, streckte sie vor und rannte weiter. Ein Schwindelgefühl hatte von ihr Besitz ergriffen, sie hatte vollkommen die Orientierung verloren und war nur noch einen winzigen Schritt von einer Panik entfernt.
    Da stand ihr plötzlich etwas im Weg.
    Ihr linkes Knie stieß gegen etwas Metallisches, es klapperte, und durch ihren Schwung drehte sie sich und kippte vornüber. Aber sie stürzte nicht zu Boden. Seitlich fiel sie auf eine Art Stuhl, der unter ihr knarrte. Als sie ihre Haltung korrigierte und sich aufrecht hinsetzte, ertasteten ihre behandschuhten Hände Armstützen. Die Oberfläche der Lehnen war uneben, als wäre Metall mit brüchigem Kunststoff überzogen. Mit den Maschen ihrer Handschuhe blieb sie ständig daran hängen. Sie ließ die Hände weiter hinab wandern und stellte erschrocken fest, dass der Stuhl Räder hatte. Die Reifen waren zerfetzt, das Gummi zu unregelmäßigen Klumpen verhärtet. Jetzt stießen ihre Schuhe auch an Fußstützen.
    Margarete saß in einem Rollstuhl.
    Das Schwindelgefühl in ihr wurde stärker, anstatt nachzulassen. Übelkeit kam hinzu, sie fühlte sich hundeelend und war unfähig aufzustehen. Es war nicht ihr Kreislauf, der ihr Probleme bereitete, sondern etwas anderes.
    Die grauenvolle Energie dieses Ortes. Der Hass, die Angst, die Gefahr – die Schrecken der geschehenen Verbrechen, die ungebremst in sie strömten.
    Der Rollstuhl fühlte sich an, als wäre er in ein Feuer geraten. Das Metall war unversehrt, doch die Kunststoffauflagen waren geschmolzen. Auch die Rückenlehne wies Löcher auf.
    Dann veränderte sich etwas. Der Lärm in ihrem Kopf wich zurück, und eine einzige Stimme dominierte. Die Stimme eines Mannes.
    „Ge-… rechtigkeit …“
    Margarete versuchte aufzustehen. Es ging nicht.
    „Hilflos“, sagte die körperlose Stimme. „So … hilflos. Festgeschnallt. Warum hilft mir niemand? Ich habe mich noch nicht … noch nicht vom Leben verabschiedet … Gerechtigkeit … Ge-… Ge-… rechtigkeit.“
    Die Dozentin hob die Arme. Sie war nicht festgeschnallt. Aber der Schwindel war so stark, dass sie es nicht schaffte, auf die Beine zu kommen. Es lief auf das gleiche hinaus.
    Noch etwas anderes war jetzt zu hören. Schritte näherten sich, leise, feucht, als komme jemand in nassen Strümpfen angerannt. Sanjay?
    „Margarete!“ Es war Sanjays Stimme. „Hier bist du also! Oh Gott, ich bin so froh, jemanden gefunden zu haben! Warum … sitzt du in diesem … alten Rollstuhl? Wo sind die anderen? Ich …“ Ihre Worte gingen in Bibbern und Zähneklappern unter. Die Studentin musste entsetzlich frieren.
    Margarete wollte etwas erwidern. Sie spürte, wie ein leichter Ruck durch den Stuhl ging. Sanjay musste die Griffe gepackt haben. Wahrscheinlich wollte sie sie schieben, um von hier wegzukommen. Eine ausgezeichnete Idee.
    Doch die Idee kam nicht mehr zur Ausführung.
    „Ge-… rechtigkeit“, stöhnte die Männerstimme.
    Es gab einen irrsinnigen Schlag – unmöglich zu sagen, woher er kam. Sanjay brüllte auf, wie Margarete noch nie einen Menschen hatte brüllen hören. Der Rollstuhl erhielt einen Stoß nach vorne und rollte ein Stück. Es knallte und knisterte. Kurz darauf fiel etwas Schweres hinter der Dozentin zu Boden.
    Ein menschlicher Körper.
    „Sanjay!“, schrie Margarete. Sie verlagerte das Gewicht nach vorne und kam auf die Beine. Stehen konnte sie nicht, sie kippte vornüber, auf alle Viere. „Sanjay! Antworte!“ Tränen schossen ihr in die Augen, als keine Reaktion erfolgte. Die Studentin musste eine Art Stromschlag bekommen haben und war offenbar ohnmächtig.
    Ohnmächtig oder …
    Verzweifelt krabbelte Margarete um den Stuhl herum. Die Sekunden verflossen wie zähflüssige Lava. Es schien Stunden zu dauern, ehe ihre Hände gegen den Körper stießen. Die Kleidung war nass, die Haut auf eine seltsame Weise warm … und doch kalt. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas fehlte.
    „Sanjay!“ Margarete kroch mit den Händen am Arm der jungen Frau hinauf, erreichte ihre Brust. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Ein Herzschlag war nicht wahrzunehmen. Die Dozentin riss sich die dicken Handschuhe von den Händen, fand den Hals und fühlte den Puls.
    Nichts!
    Hastig schob sie sich über den Körper, brachte ihr Gesicht an den Mund. Kein Atem.
    Die Erkenntnis traf sie wie ein Krampf, der ihren Körper zu zerdrücken drohte.
    Für einen Moment klammerte sie sich an die Hoffnung, dieser Körper gehöre nicht Sanjay. Doch sie

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