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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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bewusst geworden war, dass er danach gegriffen hatte. Er drehte ihn um, wunderte sich über sein Gewicht und starrte auf ein dickes, rotes Siegel, welches das zarte Schreiben in unpassender Weise verschloss. Vorsichtig berührte er es mit der Fingerkuppe und stellte fest, dass es nicht nur noch weich, sondern auch ein kleines bisschen warm war.
    Nun hielt ihn nichts mehr an diesem Ort.
    Einen letzten Blick an dem schwarzen Turm empor werfend, stürzte er los, an den Hallen der stummen Helden vorbei, und als seine Füße über das Grün der Heide liefen, hielt er noch immer den Brief in der Hand. Er hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu stehlen, doch es war ihm, als werde das Schicksal seines Vaters darin beschrieben und erklärt, und er konnte nicht ohne ihn zurückkehren.
    Zu Hause angekommen, war die Beerdigung vorüber. Er versteckte den Brief gut in einer Dose unter seinem Bett, und es dauerte Monate, ehe er den Schneid fand, ihn zu öffnen.
    Als er die beiden Blätter dann aus dem Umschlag zog, waren sie eng mit denselben Buchstaben beschrieben, die er schon auf der Oberfläche gesehen hatte. Er zeigte sie niemandem, auch nicht seiner Mutter, schwor sich jedoch, eines Tages diese fremde Schrift zu erlernen und zu erfahren, was damit auf dem Papier geschrieben stand.
    Sein ganzes Leben lang war er überzeugt, mehr von seinem Vater aus den Ruinen von Perrick Castle zurückgebracht zu haben, als die Männer in ihrer Decke ins Dorf getragen hatten.

2
    London, März 1978
    Ihr Spitzname war Mama.
    Jedem Fremden stellte sie sich damit vor, und vielleicht war es der unpassende Name, der ihr den Zugang zu diesen erlesenen Kreisen ermöglicht hatte. Zu Kreisen, in denen alles einen Wert hatte, was originell und ausgefallen erschien.
    Mama war siebzehn, trug rosafarbene Jeans und eine gelbe Rüschenbluse dazu. Ihren brünetten Haaren hatte sie mit Henna einen tiefen Rotton verpasst, ihr violett angehauchtes Make-up harmonierte ein bisschen mit dem Pink der Jeans und sonst mit gar nichts. Sie ließ sich in weichen Wellen durch die eng stehenden Menschen gleiten, suchte nach bewundernden Blicken und erntete doch meistens nur ein leichtes Hochziehen einer Augenbraue.
    Kommentare gab es nur selten, und wenn, dann verstand sie sie oft nicht.
    Sie kam aus Deutschland – ihr Englisch war verbesserungsfähig. Sie konnte fast alles lesen, aber die Leute hier in London sprachen mit einem seltsamen Akzent, als kämen sie alle aus der Provinz. Am besten verstand sie noch die Ausländer. Ein großer Grieche mit einer gewaltigen Habichtsnase unterhielt sich eine Weile mit ihr am kalten Büffet und versuchte ihr einzureden, er sei Onassis.
    „Onassis ist tot“, sagte Mama.
    „Seit er an dieser Bar einen Drink nahm, ist er es nicht mehr“, kam prompt die Antwort. „Außerdem gibt es keinen Tod. Es gibt nur falsche Kleidung.“
    Ein Russe in einem schneeweißen Anzug führte sie durch die Bildergalerie auf der Empore. Er kannte sich mit den alten Meistern aus. Erst auf den zweiten Blick stellte sie fest, dass er selbst ein Kunstwerk war, denn in seinem hübschen, aber unnatürlichen Gesicht hatten plastische Operationen ihre Spuren hinterlassen.
    „Man sieht erstaunlich wenig kräftige Farben hier“, meinte sie zu ihm, um etwas zu sagen, was ihre Gedanken von dieser Entdeckung ablenkte.
    „Ich verstehe nicht, was du meinst“, gab der Russe zurück. „Ich sehe viel kräftiges Weiß, kräftiges Dunkelblau …“
    „Aber kein Rot. Kaum jemand trägt etwas Rotes.“
    „Rot ist keine Farbe“, kam es fachmännisch und ohne jede Gesichtsregung zurück. „Rot ist eine Provokation.“
    Auch ein etwa sechzigjähriger Mann mit einem ausladenden gezwirbelten Schnurrbart lief ihr mehrmals über den Weg – sicher nur beim ersten Mal aus Zufall. Als er sich ihr vorstellte, verstand sie seinen Namen nicht, und sie rätselte lange über seine Herkunft. Seine Aussprache war hart, und bei jedem R schien er zu stolpern. Der Blick aus seinen blauen Augen wirkte durchdringend und traurig, und wenn er lächelte, was er beinahe zwanghaft oft tat, schien er damit nicht richtig glücklich zu werden. Einem Patron ähnlich tauchte er immer wieder in ihrer Nähe auf, wie um sich zu versichern, ob ihr auch nichts zustieß. Sie kam zu dem Schluss, dass er Ungar sein musste. Er sah aus, als könne er ein wildes Pferd zureiten, ganz ohne Gewalt, wenn er nur den edlen schwarzen Anzug gegen zweckmäßigere Kleidung tauschte.
    Modedesigner aus

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