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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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    Der Junge lief hinaus in die Natur, um seinen Vater zu suchen.
    Was in diesen Minuten auf dem Dorffriedhof beigesetzt wurde, durfte nicht sein Vater sein.
    Zwei Dutzend Gäste hatten sich auf dem schiefen, wie provisorisch hinter die kleine Kirche gelegten Stück Erde eingefunden, bohrten mit ihren schartigen Händen in ihren Hosentaschen und murmelten ihre Gebete so grantig, als wären es Flüche. In einer Totenkiste lag ein Mann mit einem erstaunlich gleichgültigen Gesicht und ließ sich ohne Widerspruch in das Loch legen. Der Sarg war aus naturbelassenem Holz gezimmert worden, hübsch und versöhnlich, wenn man ihn von weitem sah, grob und verpfuscht, wenn man einen Blick aus nächster Nähe erhaschte. Dem Mann hatte man einen sauberen Anzug angelegt, wie er sein Leben lang keinen getragen hatte. Sowohl der hohe Kragen als auch die feierliche schwarze Krawatte dienten eindeutig dem Zweck, den Blick des taktlosen Betrachters von den Ausläufern der Wunden abzulenken. Wer diese Wunden sah, spürte intuitiv, dass der ganze Leib unter der Kleidung davon überzogen war. Es war, als lese man die ersten Buchstaben eines Wortes und wisse genau, wie es weiterging.
    Der Bestatter, ein großer, korpulenter Mann, der gerne einen über den Durst trank und hässliche, buschige Koteletten trug, stand gleich neben dem Pfarrer, als wäre die Beerdigung ein Fest zu seinen eigenen Ehren. Er war ein Freund des Toten gewesen, zumindest solange sie beide nicht betrunken waren. Auch bei den restlichen Gästen handelte es sich ausschließlich um Männer – der alte Donald, der alte Blane, die ganzen „alten“ Leute, von denen Ewan, der Verstorbene, nie einer werden würde, weil er das Pech gehabt hatte, mit fünfunddreißig den Löffel abzugeben.
    Der Junge hatte fest daran geglaubt, dass sein Vater eines Tages zu diesen von rauem Wetter und harter Arbeit gezeichneten Gestalten gehören würde, graue Borsten auf dem Kopf und gelbe Zahnstummel im Mund, die seine Sprache so unverständlich werden ließen wie die der anderen. Nun wollte man ihn in ein Loch stecken, das auf jeder Seite gerade eben zehn Zentimeter größer war als er selbst, und das mit dieser glatten Haut, mit dem vollen Haar, mit dem guten, lückenlosen Gebiss.
    Das konnte einfach nicht sein.
    Sein Vater musste sich noch irgendwo da draußen herumtreiben, auf den endlosen Wiesen der Lowlands, unter dem niedrigen, wolkenverhangenen Himmel, dort, wo er hingegangen war, als man ihn zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Die Augen des Jungen brannten, nicht von den Tränen der Trauer, sondern weil er sie anstrengte, um eine Gestalt auf den sanften Wellen der Landschaft zu erkennen. Er lief, mal schnell und verzweifelt, mal langsamer und nachdenklicher, mal stolpernd und in Schlangenlinien, mal kerzengerade, aber er blieb nie stehen. Sobald er stehen blieb oder sich umsah, fürchtete er, würde ihn der Friedhof einholen, mitsamt dem Loch, auf das sie bald den Namen seines Vaters setzen würden.
    Der Junge hatte das rote Haar seiner Mutter und den ausdrucksvollen, etwas eigensinnig wirkenden Mund seines Vaters. Seine Mutter stammte aus Irland, und sein Vater aus den Highlands, also waren sie im Grunde Fremde hier, und so manches Mal hatte man es sie spüren lassen. Doch der Junge hatte seine Freundschaften geschlossen, wie jeder andere Bursche im Dorf, es gab ein, zwei Mädchen, auf die er ein Auge geworfen hatte, und die Hälfe der knorrigen Alten durfte er beim Vornamen nennen. Richtig fremd, von Grund auf fremd kam er sich an diesem Tag zum ersten Mal vor. Sie hätten diesen Körper, der so aussah wie sein Vater, nicht in den Sarg legen dürfen. Das hätten sie ihm und seiner Mutter nicht antun dürfen.
    Ewan war manchmal zum Nachdenken hinausgegangen. Er wollte nicht sagen, worüber er nachdachte, und sein Sohn hatte das Gefühl, dass es nichts Bestimmtes war. Wenn die Arbeit in der Werkstatt ihm an die Nerven gegangen war, wenn er und seine Frau sich wieder einmal allzu lautstark gestritten hatten, dann rannte er weg, lief hinaus auf die Heide, und während er sich dem Horizont näherte, wurden seine Schritte schon langsamer, regelmäßiger, und wenn er hinter einem der Hügel verschwand, sah es meistens schon aus, als würde er tanzen.
    Ein paar Mal war der Junge auf seine Spaziergänge mitgegangen, doch dann konnte sich der Vater nicht entspannen. Sogar ein Zehnjähriger war klug genug, um so etwas zu erkennen, obwohl der Mann niemals etwas sagte. Deshalb ließ er

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