Falkengrund Nr. 32
Nichts verschenkt hätte. Vergangenheiten, auf die man verzichten konnte. So etwas gab es auch für Angelika. Es war die Erinnerung an eine Hölle, die den Namen verdient hatte.
Nur wenige Wochen hatte sie gewährt, doch was machte es für die Hölle für einen Unterschied, ob sie Tage, Wochen, Monate oder Jahre andauerte. Das Schreckliche war immer ewig.
Angelika dachte daran zurück.
Und es war ihr, als beginne sie endlich zu verstehen.
10
„Ist das Sandmännchen nicht eigentlich etwas Niedliches?“, fragte Georg auf der Autofahrt nach Bottrop. „Ich habe das als Kind immer gesehen. ‚Abend will es wieder werden, alles ge-het zur Ruh’. War das nicht so ein lustiges Kerlchen, das auf einer Wolke angeschwebt kam?“
„Piggeldy und Frederik“, murmelte Dorothea, in der ebenfalls Erinnerungen aufkeimten. „Oh Gott …“
„Der Sandmann“, erklärte Jaqueline, „war ursprünglich eine Schauergestalt. Eltern drohten ihren Kindern damit, wenn sie nicht schlafen gehen wollten.“ Sie hatte ihre Kenntnisse wieder einmal in der Bibliothek und über das Internet aufgefrischt. „Angeblich soll der Sandmann den Kindern Sand in die Augen streuen, wenn sie nach dem Zubettgehen die Lider nicht geschlossen halten. Das ist natürlich schmerzhaft, und man hat den Kleinen früher sogar erzählt, sie würden blind davon werden. Es gibt eine bekannte klassische Erzählung von E. T. A. Hoffmann, die dieses Thema aufgreift. Später hat das Fernsehen in Ost und West zwei possierliche Puppengestalten daraus gemacht, aber für die Kinder früherer Generationen muss der Sandmann so ziemlich das scheußlichste Ungeheuer gewesen sein, das sie sich vorstellen konnten.“
„Und wenn es wirklich in diesem Mansion of Fear lebt?“ Georgs naive Frage schuf eine unangenehme Atmosphäre im Wagen. „Ich meine, wir haben es doch nicht einfach nur mit Hirngespinsten zu tun, oder?“
Jaqueline, die am Steuer saß, verließ die Autobahn. Sie näherten sich ihrem Ziel. „Die Frage ist, warum andere Besucher dieses Schreckensbild nicht sahen. Jeden Tag gehen Tausende von Leuten durch das Spukhaus.“
„Vielleicht hat sich das Ungeheuer schon lange in der gruseligen Umgebung verborgen gehalten, aus irgendwelchen Gründen, und die drei Männer haben es durch schieren Zufall aufgespürt“, stellte Dorothea eine wilde These auf.
Jaqueline war davon nicht zu überzeugen. „Drei Angestellte eines Herstellers von Schlafmitteln treffen nicht zufällig auf den Sandmann. Was sie miteinander verbindet, ist der Schlaf. Da liegt der Schlüssel.“
„Und Angelika?“, warf Georg ein. „Was hat sie mit Schlaf zu tun?“
„Sie träumt viel“, sagte Dorothea.
„Wir wissen nichts über ihre Zeit im Waisenheim“, gab Jaqueline zu bedenken.
Wenig später erreichten sie den Movie-Park, besorgten sich Tageskarten und suchten mit dem Plan in der Hand den kürzesten Weg zum Mansion of Fear. Die Attraktion war nach einer eintägigen Schließung längst wieder für den Publikumsverkehr geöffnet. Polizei und TÜV hatten das Haus erneuten Prüfungen unterzogen und nichts zu beanstanden gehabt. Ein unübersehbares Schild prangte jetzt neben dem Eingang, auf dem Personen, die zu Schwindelanfällen neigten, auf die steilen Treppen hingewiesen und darum gebeten wurden, das Geländer niemals loszulassen.
Ehe die drei Freizeitdetektive das Haus betraten, sahen sie sich in seiner Umgebung um. Ihnen fiel ein älterer Mann in Jeans und Lederjacke auf, der hinter dem Mansion in einem primitiven Häuschen saß und vier winzige Monitore im Blick hatte. Jaqueline klopfte gegen die offene Tür, und der Mann fuhr herum.
„Entschuldigen Sie“, sagte Jaqueline. „Sie überwachen hier alles, was?“
Der Mann brummte ein „Ja“. Auf den Bildschirmen wechselten in kurzen Abständen die Bilder aus dem Inneren des Hauses. Menschen gingen eher zögernd durch unspektakulär wirkende Räume, sahen sich Dinge an, die man bei dieser schlechten Bildqualität nicht erkennen konnte.
Georg nickte interessiert. „Dann haben Sie bestimmt auch Aufnahmen von dem Unglück, das neulich passiert ist. Deswegen sind wir nämlich hier.“
Jaqueline verdrehte die Augen. Im Grunde war Georg kein Dummkopf, aber manchmal stellte er sich oberdusselig an.
„Sind Sie Reporter?“, fragte der Mann mit unverhohlenem Unmut. Jaqueline sagte sich, dass dieser Unmut verständlich war, selbst wenn er nichts Unrechtes getan hatte und nichts wusste. Schließlich ging es hier um den Ruf
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