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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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abzuschwächen, nein, aufzuheben. Sie fühlte sich nicht krank, nicht verletzt und schon gar nicht tödlich getroffen. Als der Schock abebbte, war sie im Gegenteil voller Energie, gestärkt wie nach einer leichten Mahlzeit. Vielleicht wirkten die beiden Stacheln ja wie Magneten – jeder Pol für sich mochte tödlich sein, doch beide zusammen entfalteten eher eine positive Wirkung. Obwohl das bedeuten mochte, dass sie noch immer in Gefahr war, unterbrach sie ihre Flucht und ließ ihrem Führer endlich die überfällige Hilfe angedeihen. Genauso wie er sie zuvor aus der Gefahrenzone gezogen hatte, reichte sie ihm jetzt ihre Hände. Mit einem Unterschied: Er schaffte es nicht, sich aufzurichten, und sie musste ihn über den glatten Boden schleifen.
    Hatte er bereits einen Schlangenstachel abbekommen? Nein, anscheinend machten ihm die Schmerzen zu schaffen, die er schon gehabt hatte, ehe sie diese sogenannte Abkürzung einschlugen. Sie schienen aus seinem Inneren zu kommen, aus Brust oder Bauch. Immer stärker krümmte er sich, und als sie ihn durch die Türöffnung gezerrt hatte, beugte sie sich über ihn, ohne einen Blick in den neuen Raum zu werfen. Dort mochten ihretwegen Runen Hula tanzen oder römische Ziffern die punischen Kriege nachspielen – im Augenblick interessierte sie das alles nicht. Sie wollte nur herausfinden, wie sie dem jungen Mann helfen konnte.
    „Was ist mit dir los? Was für Schmerzen sind das?“ Sie kniete neben ihm nieder, hielt seinen Kopf, wie es Leute in Filmen immer bei Sterbenden taten.
    Mit verzerrtem Gesicht stieß er flüsternde Laute hervor.
    „Du musst deutlicher sprechen“, drängte sie. „Ich verstehe dich nicht.“
    „Der … Buchstabe“, keuchte er.
    „Du meinst den Bookstabber. Wo ist er?“
    „Der … Buchstabe“, wiederholte er trotzig. „Er wächst … zu schnell … Ich war zu langsam … Er hat mir versprochen, ihn … ihn … herauszuoperieren … wenn ich wieder … zurück … zurück …“
    Sie kniff die Augen zusammen. Irgendwie sah es so aus, als rühre sich in seinem Brustkorb etwas, als beule sich dort etwas aus, nicht wie in schlechten Filmen, in denen seltsame, insektenartige Ungeheuer unter der Haut von Menschen herumkrochen. Was da in ihm wuchs, war groß und grob, es zappelte nicht, es war fest installiert in seinem Inneren, wurde einfach nur größer und größer.
    Sanjay glaubte das Brechen von Knochen zu hören. Vielleicht waren es auch Sehnen, die rissen, Muskeln, die in Stücke gingen, Fettgewebe, das zerfetzte. Seine Schultern wurden auseinandergedrückt, doch er hielt sich den Unterleib, als wären die Schmerzen dort noch schlimmer. Was konnte schlimmer sein, als dass einem ein unaufhaltsam wachsender Querbalken von innen die Schultern nach außen schob?
    Vielleicht, dass ein anderer, ein tief im Körper verborgener Längsbalken mit derselben Geschwindigkeit nach unten wuchs und die Innereien zerquetschte?
    „Wie kann ich dir helfen?“, brüllte sie.
    Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht hatte eine dunkelrote Farbe angenommen. „Zu spät“, formte sein Mund, aber seine Stimmbänder vermochten die Bewegungen von Lippen und Zunge nicht mehr mit seiner Stimme zu füllen. In seinem Inneren riss etwas, und mit einem Mal verschwand die Anspannung aus seiner Miene, seine Züge glätteten sich, seine Augen fokussierten nicht mehr, blickten in die Ferne.
    „Wer hat das getan?“, schrie sie. „Wer hat dir das Ding eingepflanzt? Wer?“
    Sie würde keine Antwort mehr bekommen. Der junge Mann, den sie nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte, starb vor ihren Augen. Tote können also auch sterben , dachte sie. Und ihr Tod kann so scheußlich sein wie der Tod da drüben. Wie mein Tod. Vielleicht ist das Diesseits nur das Jenseits eines anderen Diesseits, und wir sterben einfach nur von einer Welt in die nächste. Und wieder in die nächste. Und immer so weiter. Und jede ist hässlicher und sinnloser als die vorige.
    Sanjay wollte ihren Blick abwenden, und sie tat es, aber lediglich für kurze Sekunden, um ihn immer wieder anzusehen und Zeugin zu werden, wie das Ding, das ihn vernichtet hatte, durch seine Haut brach, ein Stück weiterwuchs und dann sein Wachstum einstellte.
    Es war nichts als eine einfache Form, ein Querbalken und ein Längsbalken, so wie sie es vermutet hatte. Was ihn getötet hatte, war der Großbuchstabe T.
    T wie Tod.
    Er musste ihn sich in winziger Form einverleibt haben, vielleicht einfach durch den Mund, wie man ein

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