Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake
Lachen. Ihr langes, intelligentes Gesicht bekam etwas Clownhaftes, und ihre schwarze Kleidung wirkte dabei wie ein Karnevalskostüm. Melanie starrte sie an und konnte sich an ihr plötzlich kaum satt sehen. Merkwürdig, dass ihr nie aufgefallen war, wie ausdrucksstark die junge Frau sein konnte. Sie hatte nur bis zu der Gothic-Maske gesehen, nicht weiter. Aber vermutlich wollte es Isabel so.
„Einverstanden“, sagte die Schwarzhaarige, als sie sich beruhigt hatte. Plötzlich war eine Vertrautheit zwischen den beiden, als wäre nicht nur ein Knoten geplatzt, sondern Dutzende. „Ich werde dir erzählen, warum ich bin, was ich bin. Aber du darfst nicht lachen.“
„Kann ich ... wirklich nicht versprechen“, gluckste Melanie.
„Auch gut.“ Isabel schob die leere Eisschale von sich. „Also: Kennst du Woodstock?“
„Meinst du den kleinen gelben Vogel bei den Peanuts?“
„Kleiner gelber Vogel? Keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich rede von dem Konzert.“
„Das war ja wohl vor unserer Zeit ...“
„Ja, aber meine Eltern waren dabei.“
„Wirklich? In den USA?“
„Auf dem Feld, zwei deutsche Verrückte inmitten einer halben Million amerikanischer Verrückter.“
„Das ist ziemlich cool.“
„Denkst du . Du bist nicht von ihnen erzogen worden.“
Und Isabel begann mit ihrer Geschichte ...
4
Jeder Amerikaner, der heute zwischen Fünfzig und Sechzig ist, könnte in Woodstock dabei gewesen sein. Man sagt, den meisten sähe man es nicht mehr an. Die Hippies von damals tragen heute maßgeschneiderte Anzüge, die ehemaligen Haschraucher haben sich inzwischen den Drogen Bier und Fernsehen zugewandt, und die freizügigen Blumenmädchen aus den Sechzigern gehören jetzt zu den biederen Moralwächterinnen, die für den katholischen Mütterverein Kekse backen und erbost bei den Fernsehanstalten anrufen, wenn die rhythmischen Tanzbewegungen einer Soulsängerin gar zu suggestiv geraten.
Viele sind ein Teil des Establishments geworden, gegen das sie damals protestierten.
Doch vielleicht tut man den Menschen Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, ihre Ideale von einst völlig vergessen zu haben. Nicht alle, die sich damals für Liebe und Frieden begeisterten, haben eine Drehung um 180 Grad vollzogen. Manche sind sogar in ihrer Entwicklung stehen geblieben. Sie haben diese Zeit ihrer Jugend so tief und heilig empfunden, dass sie ihr Leben lang an der Erinnerung an diese Tage kleben bleiben, unfähig, in ihrem Leben etwas zu finden, das ihnen ähnlich bedeutsam erscheint, ähnlich elementar wie dieses gewaltige Konzert voller Liebe, die Jahre, die darauf zuführten und die Erinnerung, die davon übrig blieb.
Vielleicht war es niemals im letzten Jahrhundert so befriedigend gewesen, zwanzig Jahre alt zu sein, wie Ende der Sechziger.
Isabel hätte sich gewünscht, ihre Eltern wären ein wenig erwachsener gewesen. Sie hätte sie gar nicht ungern in maßgeschneiderten Anzügen gesehen. Sie erwartete von ihren Eltern, dass sie spießig waren und konservativ, dass sie ihren Kindern sinnlose Regeln auferlegten, gegen die diese aufbegehren konnten. Dazu waren Eltern da – dafür brauchte man sie.
Doch Isabels Vater und Mutter waren anders.
Mark „Stoned“ Holzapfel saß nackt im Wohnzimmer und spielte Dylan auf einer verstimmten Gitarre, wenn er das war, was sein Spitzname bezeichnete. Er war Vegetarier, aß Tofu-Steaks und Rohkost und zog zwischen den Bissen an seinem Joint. Die Marihuana-Pflanzen auf dem Fensterbrett gediehen prächtig. Mark saß für gewöhnlich zusammengesunken am Tisch, das Kinn beinahe auf der Tischplatte, kratzte sich den Ziegenbart und fuhr sich durch das ungewaschene graue Kraushaar. Er sprach langsam und gedehnt, und wenn ihm nach stundenlangem schiefem Sitzen das Kreuz wehtat, ließ er sich von seiner Frau Annette massieren und akupunktieren.
Gemeinsam machten sie Tai Chi und Yoga, und wenn sie in ihrem Rausch irrtümlicherweise glaubten, die Tür abgeschlossen zu haben, praktizierten sie auch die höheren Weihen des Tantra.
Annette trug ihr langes Haar meist zu Zöpfen geflochten, und wenn sie nicht gerade der Batik frönte, zündete sie überall im Haus Räucherstäbchen an und versenkte sich in Meditation. Manchmal konnte man sie auch dabei beobachten, wie sie aus dem Haus lief und versuchte, wildfremde Passanten auf einen Tee einzuladen. In den fünfzehn Jahren, an die Isabel sich erinnern konnte, war nur eine einzige Person dieser Einladung nachgekommen, und das war ein
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