Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake
Zuschauer mit Trommeln und Gitarren die Pausen zwischen den Künstlern füllten. Während das Publikum die Musiker bejubelte, bestaunten die Musiker das Publikum. Der Kreis schloss sich – sie waren alle eins. Viele Drogen machten die Runde, und wenn man in die Menge blickte, sah man nur glückliche, gelöste Gesichter. Man redete über das kommende Zeitalter, über asiatische Religionen und Meditationstechniken, über die Chancen des Kommunismus und über Vietnam.
Irgendwann kannte Isabel die Geschichten auswendig, so dass sie sich vorkam, als hätte sie in einem früheren Leben selbst an dem Konzert teilgenommen.
Das schlimmste war dieses Video.
Ein Regisseur von Independent-Filmen, Michael Wadleigh, hatte einen Film über Woodstock gedreht, eine drei Stunden-Dokumentation mit Musik, Gesprächen und vielen unkommentierten Bildern. Das Video lief mindestens einmal pro Woche auf dem heimischen VCR, manchmal, wenn Isabels Eltern in Stimmung waren, sogar mehrmals täglich.
Mark und Annette behaupteten steif und fest, zweimal auf dem Film zu sehen zu sein. Einmal waren sie zwei kleine Flecken irgendwo in der Menge, das zweite Mal war angeblich Annettes Hand und Marks Fuß hinter einem abgewrackt wirkenden Kerl zu erkennen, der interviewt wurde.
Isabel hielt beide Stellen für äußerst anfechtbar.
Sie wuchs mit diesem Video auf wie manche Kinder mit der Bibel. Keine Frage, dass sie es bis ins letzte Detail kannte. Den zappeligen Joe Cocker etwa, der Luftgitarre spielte, ohne einen echten Akkord zu greifen. Oder den glatzköpfigen Onkel, der die Toilettenhäuschen reinigte, immer zuerst das Innere der Kloschüssel, danach mit derselben Bürste die Brille. Das Unwetter, das über die Versammelten niedergegangen war, die naiven „No rain! No rain!“-Chöre, mit denen die Jugendlichen das Wetter zu beeinflussen versuchten. Dann die Bilder von den Menschen, die nackt durch den Regen liefen oder sich zum Zeitvertreib mit Anlauf in den Schlamm warfen und meterweit durch die Reihen der Zuschauer rutschten. Große Kinder. Große, langhaarige Kinder ...
In einer anderen Dokumentation über das Festival hatte Isabel noch seltsamere Dinge gesehen. Ganz oben auf ihrer Liste der Kuriositäten stand eine Aufnahme von einem weißen Kleinlaster mit der Aufschrift „Eagle Snowdomes“. Die Aufschrift war handgemalt und sollte ursprünglich wohl einen Halbkreis beschreiben – der Künstler hatte sich jedoch in der Zahl der Buchstaben verschätzt, und die Schrift reichte am Ende weit über die Horizontale hinunter. Vor dem Wagen stand ein hagerer Indio, der einen riesigen Bauchladen vor sich her trug. Als die Kamera näher heranfuhr, konnte man sehen, dass er tatsächlich Snowdomes , Schneekugeln anbot. Die kleinen, halbkugelförmigen Objekte waren alle identisch. Auf einem verkrümmten braunen Ast saß ein grau bemalter Adler, der die Flügel ausbreitete, als wolle er sich eben in die Luft erheben. Wenn man die Halbkugel umdrehte, wurden schneeartige Flocken aufgewirbelt und tanzten langsam auf die Landschaft und den Adler nieder, bis sie beide völlig bedeckten.
Isabel, für die Schneekugeln der Inbegriff des Kitsches waren, fragte sich bis heute, ob der Mann viel von seiner Ware verkauft haben konnte.
In der Dokumentation hatte ihm jemand ein Mikrofon unter die Nase gehalten, und er hatte in gebrochenem Englisch erläutert: „Adler Krieg, ja? US-Adler ... deutscher Adler ... Adler immer Krieg. Und Schnee Frieden. Wenn Schnee fällt auf Adler, Adler ganz Frieden. Land Frieden. Welt Frieden. Adler wird wie Taube. Kaufen Schneekugel für Frieden.“
Isabel konnte diese Logik nicht nachvollziehen, aber vielleicht waren die von Liebe und LSD berauschten Hippies in Woodstock ja fähig gewesen, dem Gedankengang zu folgen. Für Isabel stand fest, dass hier jemand eine Wagenladung übelster Ladenhüter zu verscherbeln versuchte.
Isabel, die sich nicht gerne Märchen erzählen ließ, ging der Sache nach. An solchen unwichtigen Dingen konnte sie sich festbeißen. Sie wollte einfach nicht glauben, dass jemand diese Adler-Schneekugeln eigens produziert hatte, um sie in Woodstock zu verkaufen. Die Vorstellung war geradezu bizarr! Und dass der Adler ein Symbol für den Krieg sein sollte, leuchtete ihr auch nicht ein. Gut, der Adler mochte das Wappentier diverser kriegführender Nationen sein, aber auf den Wappen stand er gewiss nicht für Krieg, sondern für andere Dinge.
Isabel besuchte die Bibliothek und stieß unter anderem auf
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