Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
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Vorwort
1) Ich bin kein Christ mehr. Hier möchte ich erklären, warum. Ich werde oft nach meinen Gründen gefragt; heute will ich darauf antworten, so kurz und klar wie möglich. Um es vorwegzunehmen: Mein Auszug hat wenig mit dem Zustand der Kirchen und viel mit ihrem Anspruch auf Wahrheit zu tun. Es geht hier nicht um Kirchenkritik, sondern um die Gründe, warum ich keine kirchliche Lehre teile.
2) Am 6. März 1927 hielt Bertrand Russell seinen berühmt gewordenen Vortrag: Why I am not a Christian. Es war ein Text von exemplarischer Klarheit und Kürze; er umfaßte 12 Seiten im Druck. Er verbindet in klassischer Einfachheit persönliche Reflexion mit theoretischer Argumentation. Nach 85 Jahren greife ich dieses Thema noch einmal auf; es hat an Aktualität hinzugewonnen. Ich untersuche es nach meinen Erfahrungen und mit neuen Argumenten. Hätte ich Russells Formel um jeden Preis vermeiden wollen, hätte ich stilistische Ziererei erzeugt.
3) Wikipedia nennt von meinen etwa 40 Vorlesungen an der Ruhr-Universität Bochum nur diese einzige: Warum ich kein Christ bin. Sie stellt es so dar, als habe es sich um einen zweistündigen Abschiedsvortrag gehandelt, aber es war eine vielstündige zweisemestrige Vorlesung. Die Angabe erzeugte einen Rattenschwanz von Anfragen. Immer wieder wollte jemand wissen, wo mein Text zu kaufen wäre. Ich konnte nicht alle Anfragen einzeln beantworten. Ich bitte dafür um Nachsicht und gebe hier eine Kurzfassung meiner Gründe. Sie richtet sich nicht zuerst an Fachtheologen, sondern an jeden, der sich seines Glaubens gewiß oder ungewiß ist. Ich berichte und argumentiere. Ich erzähle ein wenig von meinem Leben, denn ich beschreibe mein privates Nachdenken und begründe meine persönliche Entscheidung. Der Hauptton liegt auf den Argumenten, die den Abschied zur Folge hatten. Ich verfolge sie nur soweit, wie sie dem allgemein-interessierten Leser dienlich sind.
Ich will den Fachjargon vermeiden, besonders dort, wo ich von Augustin und von mittelalterlichen Autoren spreche, aber auch beim Beschreiben des Schöpfungsberichts und anderer Bibelstellen.
Ich lade meine Leser ein, sich darüber ein Urteil zu bilden. Übrigens gibt es auch Christen, die eine Debatte darüber besser finden als die konventionelle Selbstverständlichkeit, wir seien alle Christen.
4) Kann man vernünftigerweise Christ sein oder bleiben? Dies sorgfältig zu erörtern, liegt, scheint mir, im allgemeinen Interesse. Es gibt viele Zweifler; die Zeit homogenen Volksglaubens ist in Europa vorbei. Es hagelt Kirchenkritik, aber die kirchlichen Lehren erfreuen sich großer Schonung. Viele reduzieren sie auf Nächstenliebe und lassen alles, was darüber hinausgeht, auf sich beruhen. Gerade darüber, also über die Wahrheit des christlichen Glaubens, möchte ich Unterhaltungen anregen. Es geht nicht um ‹Religion› im allgemeinen, sondern um christliche Ansprüche hier und heute. Sie fordern öffentlich politischen und gesellschaftlichen Einfluß, zum Beispiel auf die Gesetzgebung des Bundestags, auf die Gesundheits-, die Schul- und Medienpolitik. Schon deshalb sind sie in Ruhe zu prüfen.
Ich grabe, wo ich stehe. Ich rede nicht vom Buddhismus und nicht vom Islam. Über diese höre ich mir nur Leute an, die Dokumente dieser Religionen in der Originalsprache studieren. Ich rede vom katholischen und protestantischen Christentum in Europa. Ich untersuche seine Wahrheitschancen in der Gegenwart und blicke, wo nötig, auf die Vergangenheit, aus der es kommt.
Mainz, 12. März 2013 Kurt Flasch
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Einleitend
1. Rechenschaft
Ich, mit 83 Jahren, gehe mit kräftigen Schritten aufs Ende meines Lebens zu. Ich nutze die Gelegenheit, hier Bilanz zu ziehen über meine Erfahrungen. Zu ihnen gehört die christliche Religion. Sie war nicht das einzige Thema meines Lebens, noch nicht einmal sein Hauptinhalt. Politik und Philosophie, Geschichte und Literatur waren genausowichtig. Aber ich kam in wechselnden Formen immer wieder auf sie zurück und fasse kurz mein Resultat zusammen.
Ich habe sie früh unter den denkbar günstigen Bedingungen kennengelernt, nicht zur Zeit ihres Triumphs, sondern in einer kleinen Gruppe, die litt und verfolgt wurde. Ein Onkel von mir steht im Verzeichnis der katholischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Später konnte ich ihre größten intellektuellen und künstlerischen Hervorbringungen in Ruhe und Unabhängigkeit studieren. Ich habe ihr Kleingedrucktes gelesen
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