Leben bis zum Anschlag
Track #01
01 HotSpot
»Elvis ist tot!«, brüllt Achmet aus dem dritten Stock.
Ach nee, denkt Nora, das ist ja mal ganz was Neues, aber es beantwortet nicht ihre Frage.
»Wo ist Mehmet? Achmet, weißt du, wo er ist?«
Oben wird das Küchenfenster zugeschlagen.
Die Sonne blendet und Nora macht, dass sie zu Keath in den Schatten kommt. Seit Tagen wabert eine Hitzewelle über der Stadt und aus dem Berg aufgeblähter Müllsäcke vor dem Erotic-Shop entweicht Gestank.
Keath lehnt an der Hauswand. »Da kommt er.«
Unüberhörbar. Unter wilden Sprüngen vibriert das Treppenhaus hinter der Haustür. Aber das ist nicht Mehmet, unmöglich, das hört sich mehr nach dem Getrappel von Kinderfüßen an.
Achmet reißt die Tür auf und hält Nora seinen Elvis-Roboter hin. Sie hat ihn ihm geschenkt, vor zwei Monaten, und jetzt ist er schon Schrott. »Der tanzt nicht mehr. Und wenn er singt: ›Ah, ruh langsam, du Maid‹, « Achmet singt gefühlvoll und lässt dramatisch die Stimme ersterben, »dann gehen an der Gitarre die Lichter aus.«
Nora verzieht keine Miene. Sie müsste mit Sicherheit noch
mehr Kritik von Mehmets siebenjährigem Bruder einstecken, wenn sie sich über seine Verdeutschung von Are You Lonesome Tonight? schlapplachen würde. Aber aus den Augenwinkeln heraus sieht sie, wie sich hinter dem Rücken des Elvis-Imitators Keath lautlos vor Lachen krümmt.
Achmet heftet seine großen Augen vorwurfsvoll auf Nora.
»Wahrscheinlich sind’s die Kontakte. Die Batterien hast du überprüft.« Nora formuliert das nicht als Frage.
»Klar.« Ich bin ja nicht blöd, sagt sein Blick.
»Ich nehm ihn mit und bring ihn in Ordnung.Wo ist Mehmet?«
»Bei Onkel Orhan in der Schule. Was reparieren.«
Mehmets Clan ist in St. Pauli und Altona zahlreich vertreten. Einzelhandel, Im- und Export, Gastronomie sind die traditionellen Geschäftsfelder der Familie Gündür. Orhan fällt da heraus, er betreibt eine Kickboxschule. Mit seinem 10. Dan ist er weit über Hamburgs Grenzen bekannt. Und Mehmet tut alles dafür, ebenfalls einen neuen Markt zu eröffnen. Seine Leidenschaft ist das Club- und Musikgeschäft, und er arbeitet hart daran, sich als Deejay einen Namen zu machen. Mit Erfolg und Noras Unterstützung. Nora. Seine große, unerfüllte Liebe.
»Ausgerechnet bei Orhan«, murmelt Nora.
Onkel Orhan hält seine schützende Hand über die Sippe, da können sie Mehmet nicht sagen, was sie zu sagen haben. Er wird es ohnehin nicht hören wollen.
»Wir holen ihn raus und dann reden wir«, schlägt Keath vor und starrt Nora in ihrem Sommerkleidchen verlangend an.
In der Öffentlichkeit vermeiden Keath und Nora jeden Hautkontakt. Das ist hart. Es ist affenheiß. Man trägt nur leichte Stoffe am Leib und davon so wenig wie möglich. So viel Haut und
keinen Kontakt! Zum Küssen verdrücken sie sich in Hinterhöfe. Im ganzen Stadtteil gibt es keine sichtgeschützte Ecke mehr, in der sie sich nicht an den Lippen gehangen und sich angefasst haben, um sicherzugehen, dass sie tatsächlich aus Fleisch und Blut sind und nicht Traumwesen, Avatare, Ausgeburten ihrer wilden Phantasie.
Und das alles nur, weil sie es Mehmet noch nicht gesagt haben, dass sie verliebt, ein Paar, zusammen sind. Es wird nicht einfach werden. Aber so oder so, sie kommen nicht drum rum. Sie müssen es ihm sagen, bevor er es selbst herausfindet oder, noch schlimmer, von Dritten gesteckt bekommt. Und zwar allein, ohne dass Dali und Maika dabei sind und ihren Senf dazu abgeben. Ihre Freundschaft und die Jobs im SOUND CLUB sind zu wichtig.
KICKBOXSCHULE – GYM GÜNDÜR steht im Airbrushverfahren von zwei gelben Feuer speienden Drachen eingerahmt auf der Stahlplatte an dem alten Backsteinbau.
Nora drückt auf die Büroklingel. Die Tür ist nicht verschlossen. Aus den Übungsräumen dringen Kampfgeräusche, der Kampfgeist ist bis nach draußen spürbar. »Wenn der Tag mehr als lächerliche 24 Stunden hätte, würde mich das echt reizen«, sagt Nora.
Keath deutet ein Schlottern an, als hätte er Angst, und Nora knufft ihn in die Seite. Sie stellt sich vor, wie die drei Pitbull-Glatzen mit ihren Pitbulls ihr breitbeinig den Weg verstellen – das ist ihre Horrorvorstellung, die leider auch schon Realität geworden ist, nur dass Nora im Gegensatz zur Realität diesmal nicht die Flucht ergreift, sondern einen nach dem anderen wortlos, cool aus den Latschen haut.
Kaum hier, schon hab ich Gewaltphantasien, muss an meinem
beschissen schlechten Gewissen liegen, denkt
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