Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
Unterwegssein in fremden Ländern. Denn hinter jedem Tal, das das Ziel ihrer Expedition war, liegt immer wieder ein neues, noch nicht erforschtes Tal. Ich habe selbst eine gute Portion Reisefieber mitbekommen und weiß, wovon ich spreche. Doch es hat nie mein Leben beherrscht, wie es bei meinem Bruder der Fall ist. Ich glaube, er würde an Schwermut und Fernweh sterben, würde man ihn zwingen, seine Forschungsreisen aufzugeben und ein bürgerliches Leben zu führen. Und ich fürchte, auch Tobias hat das im Blut. Nur ist diese Veranlagung bei ihm noch nicht durchgebrochen. Aber wie lange wird es noch gut gehen?«
Verständnisvoll und interessiert hatte Maurice Fougot zugehört. »Wie lange wird Ihr Bruder fort sein?«
Heinrich Heller hob die Hände. »Wer kann das schon sagen? Die Quellen des Nils will er erforschen, und diesmal wird er seine Expedition von Madagaskar aus beginnen. In einem guten Jahr will er wieder zurück sein, so hat er versprochen. Doch Pläne sind leicht geschmiedet und Vorsätze schnell gefasst. Ob sie sich dann aber auch mit der Wirklichkeit vereinbaren lassen, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.«
»Sie rechnen also nicht damit, dass er so bald wieder zurück sein wird«, folgerte Maurice Fougot.
»Nein«, kam die Antwort ohne langes Zögern. »Als mein Bruder zu seiner letzten Expedition aufbrach, hörte ich Ähnliches von ihm. Erst zweieinhalb Jahre später sah ich ihn hier wieder – von der Malaria gezeichnet und dem Tod mehr als einmal nur knapp entronnen, doch schon mit neuen Plänen und jenem fiebrigen Glanz in den Augen, der mehr verrät als tausend Worte. Dass er über ein halbes Jahr geblieben ist, lag nur an seiner schlechten körperlichen Verfassung.«
»Gott sei Dank hat sich Ihr Bruder gut erholt«, bemerkte der Fechtlehrer.
Heinrich Heller schien Fougots Worte gar nicht gehört zu haben, denn er ging nicht darauf ein. »Wissen Sie«, fuhr er fort, ganz in seine sorgenvollen Gedanken versunken, »für Tobias war es damals nicht so schlimm, als sein Vater Falkenhof verließ. Er war keine dreizehn Jahre, in vieler Hinsicht noch ein Kind. Und wenn er auch damals natürlich schon von aufregenden Expeditionen träumte und sich wünschte, eines Tages zusammen mit seinem Vater loszuziehen, so wusste er doch, dass es nur ein schöner Traum war. Ein Traum, der sich bestenfalls irgendwann später einmal erfüllen würde. Sein Vater war mehr ein Idol – bewundert, aber unerreichbar.«
»Während Sie ihn aufgezogen haben.«
»Nun ja, ich war ihm schon mehr als nur ein Vater und doch zwangsläufig auch weniger, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich habe ihn auf meine Art erzogen und ihm das mitgegeben, was ich ihm anzubieten hatte.«
Maurice Fougot lächelte. »O ja, ein ganzes Universum an Wissen.«
Heinrich Heller erwiderte das Lächeln. »Tobias ist wie ein Schwamm, der alles in sich aufsaugt. Ich habe in der Tat dafür gesorgt, dass Geist und Körper beschäftigt waren, zusammen mit Ihnen und Karl Maria Schwitzing, seinem Hauslehrer, der eine beachtliche Kapazität ist. Aber die Jahre, wo wir leichtes Spiel mit ihm hatten, sind ein für alle Mal vorbei.«
»Wem erzählen Sie das, Monsieur!«
»Sie haben mir heute gesagt, dass es nichts mehr gibt, was Sie Tobias beibringen können«, sagte Heinrich Heller nachdenklich. »Und der Tag, an dem Herr Schwitzing mir Gleiches sagen wird, liegt auch nicht mehr in allzu ferner Zukunft. Er hat mich schon vorgewarnt. Und was soll dann geschehen?«
»Universität?«
Fast geringschätzig winkte Heinrich Heller ab. »Er würde sich zu Tode langweilen! Bei aller gebotenen Bescheidenheit, aber was er hier in jungen Jahren schon gelernt hat, stellt den Lehrplan so mancher Universität in den Schatten.«
»Und was ist mit Ihnen? Sie könnten ihn mit Ihrem Wissen doch noch eine Ewigkeit in Atem halten.«
»Ach, es geht ja nicht allein um die Anhäufung von möglichst viel Wissen, Monsieur Fougot. Der Junge weiß heute schon zehnmal mehr, als er von seiner Reife her sinnvoll nutzen und in praktische Entscheidungen umsetzen kann.«
»Wissen und Weisheit sind eben noch längst nicht ein und dasselbe«, pflichtete Maurice Fougot dem Gelehrten bei.
»Ein wahreres Wort ist selten gesprochen worden. Aber es wäre vermessen, von ihm zu erwarten, dass er auch die Reife eines erwachsenen Mannes an den Tag legt, nur weil sein Gehirn mit mehr Wissen voll gestopft ist, als so manch gelehrter Mann sich in mühseliger Arbeit hat aneignen
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