Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
können«, nannte Heinrich Heller das Dilemma beim Namen. »Er braucht jetzt mehr als nur Buchwissen, das ist das Problem, vor dem ich stehe – und er auch, nur dass er sich dessen natürlich nicht bewusst ist. Und ich tauge nicht dazu, einen so ungestümen Geist wie Tobias zu zähmen, der ganz nach seinem Vater schlägt. Nicht auf meine alten Tage.«
»Was Sie für ihn getan haben, Monsieur Professeur, bedarf wohl keiner wortreichen Würdigung, und ich weiß, dass Tobias Sie liebt und verehrt«, versuchte der Fechtlehrer ihn ein wenig aufzumuntern.
Heinrich Heller lächelte müde. »Was in meiner Macht stand, habe ich getan, und darin wird sich auch in Zukunft nichts ändern. O ja, es gibt noch so unendlich vieles, was er nicht weiß und von mir lernen könnte. Aber ich bin einundsechzig, und wer weiß, wie viele Jahre mir noch auf Gottes Erde vergönnt sind? Es wäre wohl zu viel von mir verlangt, dass nun ich zu seinem Lehrer werden soll, der ich zwar so oder so schon immer gewesen bin, jedoch nicht mit einem festen Stundenplan à la Karl Maria Schwitzing. Nein, ich kann diese Aufgabe so nicht übernehmen – und ich würde daran gewiss scheitern. Abgesehen davon kann ich meine wissenschaftlichen Studien nicht hintenanstellen. Was das betrifft, bin ich nicht weniger egoistisch als mein Bruder, und ich glaube, in meinem Alter ist dies kein Fehler, sondern eine Notwendigkeit.«
»So sehe ich es auch. Ihre Verdienste um die Erziehung von Tobias stehen außer Frage. Sie haben wahrlich nicht die geringste Veranlassung, sich Selbstvorwürfe zu machen.«
»Das tue ich auch nicht. Ich mache mir nur Sorgen um ihn. Denn ich spüre seine Unruhe. Wie lange kann ich ihn noch halten? Es zieht ihn magisch in die Welt! Es ist ein wahrer Segen, dass der gute Sadik bei ihm ist. Sonst wäre er wohl schon längst versucht gewesen, auf eigene Faust loszuziehen und die Abenteuer zu suchen, die er bisher nur aus Büchern und Erzählungen anderer kennt. Nun ja, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm. Also, was beklage ich mich?« Er zwang sich zu einem Lächeln, das aber wenig überzeugend ausfiel.
»Ich bedaure, Ihnen nicht helfen zu können«, sagte Maurice Fougot mit aufrichtigem Mitgefühl. »Wenn ich es recht betrachte, bin ich für meinen Teil doch recht froh, dass ich Tobias so weit habe bringen können – auch wenn sich in den Stolz der bittere Tropfen eines verletzten Egos mischt, denn niemand ist gern der Unterlegene. Aber offenbar sollte es so und nicht anders sein und ich habe meine Aufgabe im rechten Augenblick zum Abschluss gebracht.«
Etwas in der Stimme des Franzosen ließ Heinrich Heller aufhorchen. »Oh! Das klingt nach Abschied«, sagte er überrascht und mit fragendem Unterton.
Maurice Fougot nickte. »Ja, ich werde schon bald nach Paris zurückkehren.«
»Aber gewiss doch nicht wegen Tobias, nicht wahr?«
Der Fechtmeister lächelte. »Nein, auf so wackeligen Beinen steht mein Selbstbewusstsein nun wieder nicht«, scherzte er und fuhr dann ernst fort: »Ich muss nach meinen Eltern schauen. Wie Sie sich vielleicht erinnern werden, führen sie noch immer ihren kleinen Betrieb. Außerdem, die Zeit ist unruhig geworden, Monsieur Professeur.«
Dieser zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Es ist doch sehr still überall.«
»Es ist die Stille vor dem Sturm«, erwiderte der Franzose, »womit ich Ihnen gewiss nichts Neues verrate.«
Heinrich Heller hielt es für ratsamer, nicht darauf einzugehen. Im Stillen fragte er sich jedoch, ob Fougot vielleicht etwas wusste, von seinen verbotenen Aktivitäten im Geheimbund Schwarz, Rot, Gold. Aber nein, das war unmöglich! Fougot gehörte nicht zum Kreis der Eingeweihten, und wer von ihnen würde so töricht sein, über seine Zugehörigkeit zu einem derart illegalen Geheimbund zu reden – und damit Existenz und Leben aufs Spiel zu setzen?
Wenn Fougot etwas wusste, dann mit Sicherheit nur das, was allgemein über ihn in der Stadt und auf den anderen Gehöften und Gütern geredet wurde. Es war bekannt, wie er dachte. Die reaktionären Geister hielten ihn für einen verkappten Revolutionär, dem man nicht über den Weg trauen durfte. Und für die Liberalen war er ein fortschrittlich denkender Gelehrter, der sich einmal schwer verbrannt und sich danach ganz zurückgezogen hatte und nur noch für seine Wissenschaft lebte. Nun, die Reaktionäre lagen der Wahrheit schon viel näher, wenn sie ihm nicht über den Weg trauten!
»Ach, ich beneide Sie und Ihre Landsleute!«,
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